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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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hat schon zu lange in diesen einsamen ­Räumen im Temple gelebt. Vielleicht liest oder raucht er zu viel. Wie Sie ­wissen, behaupten einige Ärzte, dass Wahnsinn eine Krankheit des Gehirns sei. Eine Krankheit, von der jedermann befallen werden kann.“ Lady ­Audleys Augen waren noch immer auf die glühenden Kohlen in dem großen Kamin gerichtet. „Manche Menschen sind bereits ­jahrelang ­geisteskrank, bevor ihre Krankheit ­entdeckt wird. Manchmal haben sie einen Anfall und verraten sich in einer bösen Stunde. Sie begehen vielleicht ein ­Verbrechen und erliegen der fürchter­lichen Versuchung einer Gelegenheit.“
    Entsetzt blickte ihr Ehemann sie an.
    „Robert Audley ist verrückt“, fuhr sie fort. „Er ist ­besessen von einer Wahnidee. Das Verschwinden seines Freundes George Talboys. Er ist verwirrt und konzentriert sich auf diesen einen Gedanken. Er hat die Fähigkeit verloren, an etwas anderes zu denken. Mit einer ­Einbildungskraft, die nicht normal ist, betrachtet er ein ganz gewöhnliches Ereignis und verzerrt es zu einer ­finsteren Gräueltat, die allein seiner eigenen Besessenheit entsprungen ist.“ Ihr Gesicht fuhr zu Sir Michael, die Augen weit geöffnet. „Liebster, wenn Sie nicht wollen, dass ich so verrückt werde wie er, dann dürfen Sie es nicht zulassen, dass ich ihn je wiedersehe!“
    „Was hat er gesagt?“, rief Sir Michael.
    „Er behauptete, George Talboys sei hier ermordet ­worden, und er erklärte, er werde jeden Baum im Park entwurzeln und jeden Stein des Hauses niederreißen bei seiner Suche nach ...“ Mylady verstummte.
    „Dieses Haus niederreißen!“, rief der Baron. „George Talboys im Audley Court ermordet! Hat Robert das gesagt, Lucy?“
    Sie nickte stumm.
    „Dann muss er verrückt sein!“ Der Baron stand auf und ging unruhig durch den Raum. „Haben Sie ihn vielleicht missverstanden?“
    „Ich ... glaube nicht“, stotterte Mylady.
    „Ich werde mich noch heute Abend nach Mount ­Stanning begeben und Robert aufsuchen. Wenn wirklich etwas nicht in Ordnung ist, dann wird er es nicht vor mir verbergen können“, sagte der Baron entschlossen.
    „Aber Sie dürfen nicht nach Mount Stanning fahren, mein Liebster!“, rief Lady Audley eilig. „Sie haben die strikte Anordnung von Mr Dawson, im Hause zu bleiben! Ihre Gesundheit!“
    Sir Michael überlegte einen Moment. Dann ließ er sich mit einem resignierten Seufzer in seinen Sessel ­sinken. „Das ist wahr, Lucy“, antwortete er. „Nun denn, ich nehme an, Robert wird mich morgen so oder so besuchen ­kommen.“
    „Ja, er sagte, dass er das tun würde.“
    Doch dann sah Sir Michael auf. „Aber, mein Liebling, warum hat Roberts unsinnige Rederei Sie überhaupt erschreckt? Das betraf Sie doch gar nicht.“
    Mylady seufzte. „Der arme Bursche scheint sich eine ­weitere, gänzlich abwegige Idee in Bezug auf mich eingeredet zu haben.“
    „In Bezug auf Sie, Lucy?“
    Sie nickte. „Ja, er scheint mich mit dem Verschwinden dieses Mr Talboys in Verbindung zu bringen.“
    „Unmöglich, Lucy. Sie müssen ihn missverstanden haben.“
    Mylady schüttelte den Kopf. „Nein, er war sehr ­eindeutig.“ Sie erhob sich von der Ottomane, auf der sie gesessen hatte. Das Feuer war niedergebrannt, und nur der schwache Schein der roten Glut erhellte noch den Raum. Lady Audley neigte sich zu ihrem Mann und küsste ihn auf die Stirn. „Sie würden sich nie von ­jemandem gegen mich beeinflussen lassen, nicht wahr?“, flüsterte sie leise.
    „Mich gegen Sie beeinflussen!“ wiederholte der Baron. „Das würde niemand schaffen.“
    Lady Audley lachte ein silberhelles Lachen, das in dem stillen Raum widerhallte.

13. Kapitel

    K urz darauf saß Mylady am Kamin ihres ­eigenen Zimmers. Grübelnd blickte sie in den ­grell-roten Abgrund der brennenden Kohle. Sie war sicher, nicht wie jene Frauen zu sein, über die sie ­gelesen hatte. Frauen, die Nacht für Nacht in schrecklicher Dunkelheit und Stille wachlagen, sich tückische Vergehen ausdachten und jeden Umstand des beabsichtigten Verbrechens genauestens planten. Sie selbst war von den Umständen getrieben worden und hatte das Beste ­daraus gemacht.
    Ein zaghaftes Pochen an der Tür des Boudoirs riss Mylady aus ihren Gedanken. Sie fuhr herum. „Herein!“
    Mit jener respektvollen Geräuschlosigkeit, die einem gut geschulten Dienstboten eigen ist, wurde die Tür ­geöffnet. Eine einfach gekleidete Frau trat über die Schwelle des Raumes und brachte in den Falten ihrer

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