Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
Schritte verloren hatte. Noch immer glühte die Röte wie eine Flamme auf ihren Wangen, und noch immer leuchtete dieser eigenartige Glanz in ihren Augen.
In den folgenden Minuten litt sie Höllenqualen. Sie stand vor dem niedrigen Kamin in ihrem Boudoir und beobachtete den zögerlichen Zeiger der Uhr. Entsetzlich langsam zog er seine Bahn bis zu jenen Ziffern, die anzeigten, dass es Zeit war zu gehen.
Mylady ergriff die Lampe und schlich aus dem Zimmer. Erst in der Halle im Erdgeschoß blieb sie stehen. Sie horchte auf das wütende Toben des Märzwindes, der mit der Dunkelheit stärker geworden war.
Ein Versuch, das Haus heimlich durch einen der Hauptausgänge verlassen zu wollen, wäre reine Torheit gewesen, denn die Haushälterin überwachte immer selbst das Abschließen der großen Türen auf der Rück- und Vorderseite des Gebäudes. Lady Audley fiel ein, dass ein hölzerner Laden am Fenster in der Bibliothek oft im Wind klapperte. Man hatte ihn noch nicht repariert.
Sie trat in den dunklen Raum und stellte die Lampe auf einen Tisch in der Nähe des Kamins. Dann ging sie zur Glastür. Dort öffnete sie das Fenster, entfernte die Eisenstange vor dem morschen Laden und stieß ihn auf. Ein Windstoß traf sie, als sie die Glastür geöffnet hatte. Er erfüllte den Raum mit seinem eisigen Atem und löschte die Lampe auf dem Tisch. Die Märznacht war finster und mondlos.
Schnell trat sie hinaus auf den Kiesweg und schloss die Tür hinter sich. Der frostige Wind peitschte gegen sie und wirbelte mit einem schrillen Geräusch ihre seidenen Gewänder um ihren Körper. Mylady eilte über den Hof und sah zurück. Kurz blickte sie zu dem Feuerschein hinauf, der durch die Vorhänge ihres Boudoirs drang. Dann schaute sie zu dem matten Schimmer der Lampe hinter den Fensterflügeln des Zimmers, in dem Sir Michael Audley schlief. Einen Moment blieb sie auf der Rasenfläche zwischen Hof und Torbogen stehen. Den Kopf auf die Brust gesenkt und die Hände ineinander verschlungen, erwog sie in der unnatürlichen Rastlosigkeit ihres Geistes das Für und Wider ihres Vorhabens. Sie war unsicher, doch nicht lange, denn auf einmal ging eine Veränderung in ihr vor. Mit einer trotzigen Gebärde richtete sie den Kopf auf. Sie hatte sich entschlossen.
„Nein, Mr Robert Audley“, sagte sie laut in den Wind hinein. „Wenn der Kampf zwischen uns schon ein Duell auf Leben oder Tod sein muss, dann werden Sie nicht erleben, dass ich meine Waffe sinken lasse.“
Mit festen Schritten trat sie unter den Torbogen. Die dumme Uhr schlug zwölf. Das massive Mauerwerk schien unter den schweren Schlägen zu beben, als Lady Audley auf der anderen Seite wieder auftauchte und sich zu Phoebe Marks gesellte, die in der Nähe des Weges zum Court auf ihre frühere Herrin gewartet hatte.
„Also, Phoebe“, sagte sie, „von hier nach Mount Stanning sind es drei Meilen, nicht wahr?“
„Ja, Mylady.“
„Dann können wir diese Strecke in einer Stunde zurücklegen.“ Schnellfüßig eilte sie die Allee entlang, an ihrer Seite ihre ergebene Begleiterin. So zerbrechlich und zart Myladys Erscheinung auch anmuten mochte, so war sie doch unerwartet gut zu Fuß.
„Dein prächtiger Ehemann wird wohl deinetwegen aufgeblieben sein, nehme ich an, Phoebe?“, fragte sie, als sie den Weg über das offene Feld einschlugen, der als Abkürzung zur Hauptstraße benutzt wurde.
„Oh ja, Mylady. Er wird sicher aufgeblieben sein. Ich vermute, er wird mit dem Mann trinken.“
„Dem Gerichtsdiener, der das Geld eintreiben soll?“
„Ja, Mylady.“
Die beiden Frauen überquerten das Feld und bogen in die Hauptstraße ein. Der Weg nach Mount Stanning war hügelig, und die lange Straße bot in der dunklen Nacht einen düsteren und öden Anblick. Mylady jedoch schritt mit dem Mut der Verzweiflung aus. Es war eine seltsame Stärke, die aus ihrer völligen Hoffnungslosigkeit erwachsen zu sein schien.
Sie sprach erst wieder mit ihrer Begleiterin, als sie auf dem Gipfel des Hügels angelangt waren. Die Frauen sahen den Schatten des Gasthauses gegen den nächtlichen Himmel. Ein rotes Licht drang durch den karmesinroten Vorhang, hinter dem Luke Marks sicherlich bei einem Branntwein saß und auf das Kommen seiner Frau wartete.
„Er ist noch nicht zu Bett gegangen, Phoebe“, sagte Mylady. „Und es brennt kein weiteres Licht im Wirtshaus. Ich nehme an, dass Mr Audley bereits schläft. – Du bist dir sicher, dass er heute Nacht im Castle
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