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Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi

Titel: Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dryas Verlag
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verwirrten geistigen Kräfte auf die Drohung in dem Brief des Anwalts zu ­lenken.
    „Er wird es tun“, murmelte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen vor sich hin, „es sei denn, ich bringe ihn vorher in ein Irrenhaus ... oder ...“ Sie beendete ihren Gedanken nicht in Worten. Sie dachte den Satz nicht einmal zu Ende, doch ein plötzlich einsetzendes Pochen in ihrem Herzen hämmerte jede einzelne Silbe gegen ihre Brust. Ihre Hände, die zuvor krampfartig ineinander ­verschlungen gewesen waren, lösten sich nun langsam voneinander. Sie blieb stehen, erstarrt von der Ungeheuer­lichkeit dieses einen Gedankens, der von ihrem Kopf Besitz ergriff.
    Dann riss sie sich aus dieser halb lethargischen Verfassung, ging zu ihrem Toilettentisch und setzte sich davor nieder. Sie schob die herumstehenden Flakons mit den ­goldenen Stöpseln und die Porzellandosen mit den ­Essenzen beiseite und betrachtete sich in dem ­großen ­ovalen ­Spiegel. Kein Anzeichen einer Erregung war in dem ­reizenden Bild sichtbar. Ein zartes unschuldiges Gesicht schaute ihr ­entgegen. „Gut“, murmelte sie. Dann ging sie zurück in das Zimmer, in dem Phoebe Marks noch immer auf sie ­wartete.
    Die Frau saß vor dem Feuer und hatte bereits Haube und Schal angelegt. Es drängte sie, nach Hause zu ihrem betrunkenen Mann zurückzukehren. Sie sah auf, als Lady Audley ins Zimmer kam, und beim Anblick ihrer zum Ausgang gekleideten Herrin stieß sie einen Schrei der ­Verwunderung aus.
    „Mylady“, rief sie, „Sie gehen heute Abend doch nicht etwa aus?“
    „Ich begleite dich nach Mount Stanning, um diesen Gerichtsdiener zu treffen und ihn persönlich zu verabschieden“, erwiderte Lady Audley ruhig.
    „Aber Mylady, Sie vergessen, wie spät es bereits ist. Sie können zu dieser Stunde nicht mehr ausgehen.“
    Lady Audley antwortete nicht.
    „Aber warum sollten Sie heute Abend nach Mount ­Stanning kommen, Mylady?“, fragte Phoebe Marks. „Morgen ist es ebenso gut. Der Hausbesitzer würde den Gerichtsdiener gewiss zurückziehen, wenn er Ihre Zusage hätte, die Schuld begleichen zu wollen.“
    Lady Audley schenkte diesem Einwurf keine ­Beachtung. „Phoebe Marks, höre mir zu“, sagte sie und ergriff das Handgelenk ihrer Vertrauten. Sie sprach mit leiser Stimme und hatte eine Miene aufgesetzt, die Widerspruch verbot und Gehorsam forderte.
    „Ob es nun früh oder spät ist, das ist von sehr geringer Bedeutung für mich. Ich habe beschlossen zu gehen, also werde ich auch gehen. Ich gehe, um die Schuld selbst zu bezahlen und mit eigenen Augen festzustellen, dass mein Geld auch für den Zweck verwendet wird, für den ich es gebe.“
    „Aber es ist bald zwölf Uhr, Mylady“, beschwor Phoebe sie.
    Lady Audley runzelte ungehalten die Stirn über diese Unterbrechung. „Ich glaube, dass ich dieses Haus ­verlassen und wieder zurückkehren kann, ohne von einer Seele dabei beobachtet zu werden, wenn du nur tust, was ich dir sage“, fuhr sie fort.
    „Ich mache alles, was Sie wünschen, Mylady“, antwortete Phoebe unterwürfig und wand sich unter dem harten Griff.
    „Du wirst mir also gleich Gute Nacht wünschen, und meine Zofe, die draußen vor der Tür stehen wird, wird dich hinausbegleiten. Du wirst in der Allee auf mich ­warten. Es kann eine halbe Stunde dauern, bevor es mir möglich sein wird, dir zu folgen, denn ich werde erst dann mein Zimmer verlassen, wenn alle Dienstboten zu Bett ­gegangen sind.“ Lady Audley sprach mit unnatürlicher Hast. Ihr Aussehen und Verhalten war das einer ­Person, die der beherrschenden Gewalt einer übermächtigen ­Erregung erlegen ist.
    Verwirrt starrte Phoebe Marks ihre frühere Herrin an. Eine eigenartige Angst erfasste sie und sie trat einen Schritt zurück.
    Die Glocke, die Lady Audley betätigte, wurde von der schmucken Kammerzofe beantwortet. „Ich habe nicht bemerkt, dass es bereits so spät ist“, sagte Mylady, die ­hinter halb geöffneter Tür in ihrem Boudoir stand, in munterem Ton. „Ich habe mit Mrs Marks geplaudert, und die Zeit ist mir davongeflogen. Ich brauche heute Abend nichts mehr. Du kannst also zu Bett gehen.“
    „Danke, Mylady“, erwiderte das Mädchen. „Es wäre wohl besser, ich begleitete Mrs Marks hinaus, bevor ich zu Bett gehe.“
    „Oh ja, natürlich. Alle anderen Dienstboten sind also vermutlich schon schlafen gegangen?“
    „Ja, Mylady.“
    Als die beiden Frauen gegangen waren, lauschte Lady Audley an der Tür und wartete, bis sich der gedämpfte Klang ihrer

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