Das Geheimnis der Lady Audley - ein viktorianischer Krimi
sich von ihrem Mann fort, damit er es nicht sehen konnte. Jetzt wusste sie, dass sie Sir Michael lenken könnte, wohin sie wollte. Er würde ihr alles glauben.
Doch auch wenn Sir Michael diese Bemerkung gemacht hatte, ohne weiter darüber nachzudenken, so hatte er tatsächlich keine sehr hohe Meinung von Roberts Fähigkeiten, die Dinge des täglichen Lebens zu bewältigen. Es hielt seinen Neffen für gutmütig, aber untüchtig. Ja, Gott hatte den Ärmsten freigebig mit vielen Talenten ausgestattet, doch bei der Verteilung intellektueller Gaben ein wenig Geiz gezeigt, wie der Baron fand. Damit machte Sir Michael jenen Fehler, der sehr häufig von sorglosen Beobachtern begangen wird. Sie verwechseln Trägheit mit Unfähigkeit.
Mylady warf ihre Haube beiseite und setzte sich auf eine samtüberzogene Fußbank zu Füßen Sir Michaels. Das blasse Gesicht vom Feuerschein abgewandt, hatte sie ihre ineinander verschlungenen Hände auf die Sessellehne ihres Mannes gelegt. Immer wieder drehte Mylady die juwelenbesetzten Ringe an ihren Fingern, während sie mit ihrem Mann sprach. „Ich wollte sogleich zu Ihnen, als ich nach Hause kam“, sagte sie, „doch Mr Audley hielt mich auf.“
„Aber worüber wollte er mir Ihnen reden, meine Liebe?“, fragte der Baron.
Statt zu antworten, sank ihr Kopf auf das Knie ihres Mannes, und ihre sich kräuselnden gelben Haare fielen über ihr Gesicht. Sir Michael hob zärtlich Myladys Gesicht empor. Der Schein des Kaminfeuers fiel auf das bleiche Gesicht und ließ die großen, sanften blauen Augen aufleuchten, in denen Tränen standen.
„Lucy!“, rief der Baron. „Was bedeutet das? Was ist geschehen?“
Lady Audley versuchte zu sprechen, doch die Worte erstarben in unverständlichen Lauten auf ihren bebenden Lippen. Die Seelenqual, die sie in der düsteren Lindenallee noch stumm ertragen hatte, war zu erdrückend geworden. Sie brach in ungestümes Schluchzen aus. Es war kein geheuchelter Schmerz, der an ihr zerrte. Es war ein Ausbruch echter Furcht. Es war ein wilder Aufschrei, in dem die schwächere Natur dieser Frau die Oberhand über die Verschlagenheit der Sirene gewann.
Dieser Ausbruch entsetzte ihren Mann. Er verwirrte und erschreckte ihn, und er stürzte seinen Geist in hilfloses Durcheinander und tiefe Fassungslosigkeit. Diese Tränen trafen den einen schwachen Punkt dieses Mannes: die Liebe zu seiner Frau. „Lucy!“, rief er. Er beugte sich über die zusammengesunkene Gestalt zu seinen Füßen.
Mylady blickte auf. „Ich bin sehr töricht“, gestand sie, „aber er hat mich wirklich ganz hysterisch gemacht.“
„Wer ... wer hat Sie hysterisch gemacht?“
„Ihr Neffe ... Mr Robert Audley.“
„Robert?“, rief der Baron.
„Er beharrte darauf, ich möge in die Lindenallee kommen“, begann sie. „Er sagte, dass er sich mit mir unterhalten wolle. Und so ging ich mit. Und dann behauptete er so schreckliche Dinge, dass ...“ Lady Audley umklammerte seine Hand. „Oh, mein Geliebter, wie kann ich es Ihnen erzählen?“ Sie blickte ins Feuer. „Haben Sie jemals ...“ Sie zögerte. „Ich befürchte so sehr, Sie zu beunruhigen ... aber ... haben Sie je daran gedacht, dass Mr Audley vielleicht nicht ganz ... nicht ganz ...“ Ihr Mann sah sie fragend an. „Nicht ganz bei Sinnen ist“, stammelte Lady Audley.
„Mein liebes Kind, woran denken Sie?“, rief Sir Michael.
„Aber Sie haben doch vorhin selbst erklärt, dass Sie glaubten, die Leute hielten ihn für verrückt.“
„Habe ich das gesagt?“, fragte der Baron. „Ich kann mich nicht erinnern. Robert mag ein wenig sonderbar sein, aber ich glaube nicht, dass er Verstand genug hat, um verrückt zu sein.“
„Aber Wahnsinn ist manchmal erblich“, warf Mylady ein.
„Er hat keinerlei Wahnsinn von Seiten der Familie seines Vaters geerbt“, unterbrach Sir Michael. „Die Audleys haben niemals private Anstalten für Geisteskranke bevölkert oder die Honorare von Irrenärzten bezahlt.“
„Auch nicht von Seiten der Familie seiner Mutter?“
„Nicht, soviel ich weiß.“
„Die Leute pflegen derartige Dinge für gewöhnlich geheim zu halten“, gab Mylady zu bedenken. „Es könnte durchaus Wahnsinn in der Familie Ihrer Schwägerin gegeben haben. – Ich habe versucht, mir das Verhalten Ihres Neffen zu erklären. Wenn Sie die Dinge gehört hätten, die er heute Abend zu mir gesagt hat, Sir Michael, dann würden Sie ihn auch für verrückt halten. – Ich vermute, er
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