Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
lebten – sie, Kim, hatte ihr eigenes Leben.
Leise eilte sie nun die Stufen hinauf, wandte sich am Kopf der Treppe nach links und zog Lenny mit zu ihrem Zimmer am Ende des Korridors. Dort angekommen, schloss sie vorsichtig die Tür hinter sich.
So ganz wohl war ihr auch nicht bei der Sache. Lenny hatte recht: Ihre Mutter würde nicht gerade begeistert darauf reagieren, ihn hier anzutreffen. Obwohl Kim nächsten Monat schon fünfzehn wurde, behandelte Shelly sie immer noch wie ein kleines Kind – dabei war sie es doch, sie sich im Moment mehr als kindisch aufführte. Jeder konnte schließlich sehen, dass Josh und sie wie füreinander geschaffen waren!
Manchmal ertappte sich Kim sogar dabei, dass sie sich ausmalte, wie es wohl wäre, Josh zum Vater zu haben. Ihr schlechtes Gewissen ihrem echten Dad gegenüber hielt sich dabei in Grenzen. Sie hatte ein bisschen im Internet recherchiert und ein paar Dinge über ihn herausgefunden, die ihr ganz und gar nicht gefielen. Dinge, über die ihre Mutternicht gesprochen hatte, vermutlich um Will und sie zu schützen.
So seltsam es sich auch anfühlte, so etwas über ihren eigenen Vater zu denken, aber Kims Meinung nach gehörte er ins Gefängnis, und sie war nicht sicher, ob sie ihn jemals wieder sehen wollte.
»Du zeichnest ziemlich gut«, sagte Lenny anerkennend, während er sich ein bisschen in ihrem Zimmer umsah.
Kim strahlte. Sie war inzwischen selbst froh darüber, dass sie ihrem ersten Impuls, das ganze Zimmer schwarz anzustreichen, nicht nachgegeben hatte. Auch die Poster der Bands, die sie früher in L. A. gehört hatte, waren in irgendeiner Schublade verschwunden. Stattdessen erstrahlte die Wand vor ihrem Bett jetzt in einem satten Brombeerton und war mit zahlreichen Bleistiftzeichnungen dekoriert. Zeichnungen, die sowohl sie selbst als auch Megan und Firefly und sogar Will zeigten. Und eines, wie sie zu ihrer Verlegenheit feststellte, auch Lenny …
»Und was ist nun die Überraschung?«, fragte der jetzt ungeduldig.
»Komm mit, du wirst schon sehen!« Sie nahm seine Hand und führte ihn zu ihrem Einbaukleiderschrank, der in eine Nische in der Wand eingelassen war.
Lenny stöhnte, als sie ihn öffnete. »Ehrlich, Kim, als Modeberater tauge ich nichts.«
»Darum geht’s doch gar nicht«, entgegnete Kim lachend. Dann kniete sie sich hin und drückte mit der flachen Hand gegen die Rückwand des Kleiderschranks, während sie mit der anderen nach einem verborgenen Druckpunkt am Boden tastete.
»Was zum Teufel …?«, stieß Lenny überrascht hervor, als die untere Hälfte der Rückwand aufschwang und den Blickauf einen erstaunlich breiten Gang freigab. Er spähte an Kim vorbei in den Schrank, doch es war viel zu dunkel, als dass er viel hätte erkennen können. »Wo führt das hin?«, wollte er wissen.
»In eine niedrige Zwischenetage zwischen dem Erdgeschoss und dem ersten Stock, gerade hoch genug, dass ich aufrecht drin stehen kann«, erklärte Kim. »Ich habe die Öffnung zufällig entdeckt, als ich gestern früh mein Zimmer aufräumte. Komisch eigentlich, denn es gibt sogar ein Fenster. Aber vermutlich hat sich bisher auch keiner das Haus so genau angeguckt, oder Emily weiß davon, hat es aber im Laufe der Jahre schlicht und einfach vergessen. Jedenfalls wollte ich es eigentlich gleich meiner Mom zeigen, aber dann war ich wegen der Sache mit Josh einfach zu sauer auf sie. Es gibt eine Luke und eine Leiter, über die man nach unten gelangt. Ich war gestern Abend schon mal unten und hab mich umgesehen. Da lagert jede Menge alter Krempel, und durch ein Astloch im Boden kann man direkt in die Küche runtergucken. Bring doch mal die Taschenlampe, die auf meinem Schreibtisch liegt.«
»Du willst da runter?«
»Klar, warum denn nicht?« Sie senkte die Stimme. »Meine Mom denkt, dass ich mich mit Megan in der Stadt treffe, und dort unten sind wir garantiert vollkommen ungestört …« Irgendwie schaffte sie es, selbstsicher zu klingen, obwohl ihr das Herz vor Aufregung bis zum Hals klopfte. »Kommst du?«
Kim ließ sich von Lenny die Taschenlampe geben und ging voran. Schon nach wenigen Schritten erreichte sie die Luke und kletterte nach unten. Das Zwischengeschoss war so niedrig, dass man nur geduckt gehen konnte, aber immerhin fiel durch ein winziges Fenster auf der Giebelseite genug Licht, sodass man auch ohne Lampe sehen konnte.
Überall standen staubige Kisten und Truhen herum, die Kim bisher nicht aufgemacht hatte. Unter schweren Abdeckplanen
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