Das Geheimnis der Maurin
einem Neuzugang, der gotterbärmlich schrie.
Erst lange nach Sonnenuntergang hatten sie alle Verletzten zumindest notversorgt. Als eine Nachbarin einen Kessel mit Suppe für Helfer wie Verwundete brachte, rief Taufiq Zahra, dass sie sich zu ihm setzen und etwas essen solle. »Lasst uns draußen einen Platz suchen und einen Moment ausruhen. Wenn Ihr vor Erschöpfung umfallt, nutzt das niemandem!«
Sie setzten sich auf die gemauerte Bank im überdachten Stück des Innenpatios; die Verletzten waren inzwischen alle in Räumen untergebracht oder von ihren Familien abgeholt worden. Erst als Zahra den ersten Löffel der heiß dampfenden Fleischbrühe in der Hand hielt und ihr der Duft von Lauch und kräftigen Gewürzen in die Nase stieg, merkte sie, wie hungrig, entkräftet und durchgefroren sie war. Trotz der Anwesenheit von Taufiq und anderen Männern legte sie zum Essen den Schleier ab und schlang die Suppe hinunter. Als der Teller bis auf den letzten Tropfen geleert war, legte sie den Schleier wieder an, sank zurück gegen die Wand, sah sich im Patio um und registrierte erst jetzt, dass es zu regnen begonnen hatte. Trotzdem wollte sie nicht zurück in die Räume. Selbst hier draußen waren das Stöhnen und die Schmerzensschreie der Verletzten noch zu hören, der durchdringende Geruch nach Blut und beim Kauterisieren verbranntem Fleisch zu riechen. Erneut fragte sie sich, ob es richtig gewesen war, Abdarrahman in der Stadt zu lassen und nicht auch selbst auf die Seidenfarm geflohen zu sein. Auch wenn sie bereits einen Krieg überstanden hatte, hatte sie das Elend der Verwundeten doch nur selten so hautnah erlebt wie heute, und sie war sich nicht sicher, ob sie das auch nur noch einen einzigen weiteren Tag würde ertragen können.
Warum, mein Gott, warum?, fragte sie wieder und wieder. Warum kann es für uns hier keinen Frieden mehr geben? Wir waren gut zu diesem Land, wir haben es aufgebaut, wir haben die Christen und ihren Glauben toleriert – warum können sie uns jetzt nicht wenigstens das vergelten?
Sie musste an Jaime denken und fragte sich, ob auch er in die Kämpfe verwickelt worden war, bezweifelte es aber. Seine Aufgabe war es, Talavera zu schützen. Ein Zusammentreffen von ihm und Abdarrahman bei den Straßenkämpfen war also höchst unwahrscheinlich. Allein die Vorstellung, dass Jaime bei den Kämpfen Abdarrahman auch nur sehen könnte, versetzte sie in helle Panik, und wenn er erst erfuhr, was sie hier trieb …
Müde wischte sie sich mit dem Handrücken eine Strähne aus der Stirn, zu müde selbst, um sie wieder ordentlich unter ihren Hidschab zu stecken. Sie fragte sich, was werden sollte, wenn die Kämpfe ihre Situation nicht verbessern konnten, fand aber keine Antwort. Auf nichts fand sie mehr eine Antwort. Der Gedanke wehte sie an, dass Männer, die beim Dschihad, beim Kampf gegen Ungläubige, ums Leben kamen, als Shahids, als Märtyrer, direkt ins Paradies eingingen, aber sie bezweifelte, dass dies den betroffenen Müttern ein Trost wäre. Ihr jedenfalls wäre es keiner.
Kurz darauf betrat ihr Sohn den Patio. Zahra sprang auf, nahm seine Hand und drückte sie an ihre Wange, obwohl sie merkte, wie unangenehm Abdarrahman dies war. Taufiq bot ihm einen Teller Suppe an. Statt einer Antwort schaute Abdarrahman prüfend zwischen Zahra und Taufiq hin und her, aber als Zahra ihn bat, sich zu setzen und etwas zu essen, gab er nach und schlang die Suppe gierig hinunter. Da kam Musheer in den Hof gelaufen. Er rang nach Luft. »Cisneros …«, keuchte er und blieb mit auf die Oberschenkel aufgestützten Händen vor Abdarrahman stehen. »Er … er hat Jamaal, Assad und zwei Faqihs festnehmen lassen! Irgendjemand hat ihm verraten, dass sie unsere Anführer sind. Wenn wir nicht die Waffen niederlegen, will er sie hinrichten lassen!«
Abdarrahman rutschte der Teller vom Schoß, er fiel zu Boden und zerbarst. Niemand schien dies zu bemerken. Auch Zahra und Taufiq starrten fassungslos zu Musheer.
»Jamaal – deinen Bruder Jamaal?«, stotterte Zahra, und Musheer nickte.
»Dann müssen wir sie befreien«, presste Abdarrahman hervor. »Wir … wir können nicht aufgeben!«
»Cisneros hat sie in der Alhambra untergebracht. Gleich ist eine Versammlung in der Freitagsmoschee!«
Sofort erhob sich Abdarrahman.
Zahra sah erschrocken zu ihm auf. »Oh nein, Abdu, nicht in die Alhambra, nicht du! Dein Vater …«
Doch Abdarrahman machte nur eine abweisende Handbewegung und rannte davon. Als Zahra Anstalten
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