Das Geheimnis der Maurin
Zahra. »So still und gesittet? Solltest du in diesen Tagen etwa erwachsen geworden sein?« Sie ging an den anderen vorbei auf Chalida zu und begrüßte sie mit einer langen, stummen Umarmung. Unsicher erwiderte Chalida die Geste und wäre zu gern im Erdboden versunken, wenn ihr dies erspart hätte, ihrer Mutter gleich wieder ins Gesicht sehen zu müssen. Ein einziger forschender Blick ihrer Mutter, dessen war sie gewiss, würde genügen, um sie erneut feuerrot werden zu lassen …
Doch der Blick ihrer Mutter glitt über sie hinweg, überhaupt wirkte sie fahrig und müde, und nun bemerkte Chalida auch, wie verkrampft und gezwungen das Lächeln war, mit dem sie einen nach dem anderen begrüßte. Und die Tatsache, dass sie sie nicht tadelte, weil sie so lange hatte auf sich warten lassen, wunderte sie ebenso sehr. Schließlich wandte sich Zahra Tamu und Deborah zu und ging mit ihnen ins Haus. Aufatmend sank Chalida gegen die Hauswand und sah ihnen nach.
Als Chalida später von Tamu hörte, dass Musheer einige Wochen bei ihnen bleiben würde, weil sich seine Eltern seit zwei Monaten auf einer Pilgerreise nach Mekka befanden und sein Onkel, bei dem er in dieser Zeit wohnen sollte, erkrankt war, stöhnte sie, und noch mehr, als sie weiter erfuhr, dass sie Musheers Anwesenheit wegen bis auf weiteres streng nach Geschlechtern getrennt essen würden – denn dies bedeutete, dass sie Aaron nun nicht mehr bei den Mahlzeiten sehen konnte. Entsprechend nachdenklich und abwesend war Chalida, als sie am Mittag zu Tisch saßen. Von den Berichten ihrer Mutter über den Aufstand in Granada bekam sie kaum mehr mit, als dass dieser mittlerweile auch auf die Bergdörfer übergegriffen hatte, wo noch immer schwere Kämpfe stattfanden, und wurde erst dann aufmerksamer, als ihr auffiel, dass die Blicke ihrer Mutter trotz deren offensichtlicher Müdigkeit jetzt doch immer öfter forschend zu ihr wanderten. In aller Hast aß sie ein Stück von dem köstlichen, noch ofenwarmen Mandelkuchen, den Tamu Musheer zu Ehren hatte backen lassen, und bat dann, sich in ihr Zimmer zurückziehen zu dürfen, um ihrer Mutter keine Gelegenheit zu geben, sie nach dem Essen in die Zange zu nehmen. Automatisch fuhr Zahras Hand zu Chalidas Stirn. »Mir ist vorhin schon aufgefallen, wie seltsam ruhig und blass du bist, aber Fieber scheinst du nicht zu haben …«
»Aber nein, ich … ich bin nicht krank, ich … habe nur Kopfschmerzen, den ganzen Tag schon!«
Chalida sah, wie Tamu die Augenbrauen zusammenzog, und beeilte sich, das Weite zu suchen, ehe Tamu auf die Idee kam, sie zur Rede zu stellen, denn die Alte wusste natürlich, dass sie am Nachmittag noch bester Dinge gewesen war. Sie schalt sich einen Schafskopf, ausgerechnet diese Ausrede benutzt zu haben, und war heilfroh, als sie unter ihren Laken lag und jetzt gewiss niemand mehr nachbohren würde, was mit ihr los war.
Chalidas Erleichterung hielt nicht lange an, denn auch wenn sie auf ihrem Bettlager vor den anderen ihre Ruhe hatte – in ihrem Inneren ging es zu wie in einem Ameisenhaufen, in den man mit einem Ast gestochert hatte. Aaron, Aaron, Aaron … So neu war das, so fremd – und so herrlich aufregend! Voller Unruhe drehte sie sich erst auf die rechte Seite, dann auf die linke, von dort auf den Bauch und schließlich wieder, unwillig aufstöhnend, auf den Rücken, und das Gleiche wiederholte sie wieder und wieder, ohne dass sie darüber Schlaf oder Entspannung finden konnte. Aufzustehen aber wagte sie nicht, weil sie Angst hatte, dann doch noch in die Fänge ihrer Mutter zu geraten. Endlich gingen auch ihre beiden Zimmerkameradinnen zu Bett, atmeten bald ruhig und tief, im ganzen Haus schien Ruhe eingekehrt. Nachdem sie noch einmal angestrengt gelauscht und noch immer keine Geräusche im Haus hatte vernehmen können, erhob sie sich schließlich doch, machte ihrem Hund Zeichen, sich nicht von der Stelle zu rühren, legte ihre Kleider über den Arm und huschte aus dem Zimmer. Sich hastig nach allen Seiten umsehend, verzog sie sich in eine dunkle Flurecke, zog sich dort rasch an und eilte über den nur von einer milchigen Mondsichel beschienenen Hof zum Pferdestall. Barbakan empfing sie mit einem freundschaftlichen Wiehern. Chalida huschte in seinen Verschlag, schlang ihm die Arme um den Hals und drückte ihre Wange an das warme Fell. »Ach du, du verstehst mich wenigstens!«
Barbakan schnaubte; sein warmer Atem, der ihr über den Rücken strich, fühlte sich an wie eine
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