Das Geheimnis der Maurin
diesem Nachmittag mit Aaron noch weniger bereit war. Diese Nähe, die sie seit jeher zu Aaron gespürt hatte – auf einmal hatte sie noch eine ganz andere Bedeutung. Ja, dieses wortlose Verständnis, das sie von Anfang geteilt hatten, dieses Gefühl des Einsseins mit ihm, das manchmal so stark war, dass sie den Rest der Welt gar nicht mehr wahrgenommen hatten …
Chalida war sich gewiss, dass diese Gefühle ein Geschenk waren, das einem der Allmächtige nur ein einziges Mal im Leben machte, und schwor sich, dass niemand sich jemals zwischen sie und Aaron stehen sollte, auch Musheer nicht. Als Aaron sie nun wieder ansah, spürte sie ein Kribbeln im Bauch, das sie auf angenehme Art und Weise wieder unruhig werden ließ; ihr Körper schien ein Eigenleben zu entwickeln, und die Sehnsucht nach Aaron und seinen Küssen wurde so groß, dass sie schließlich ihre Scheu überwand, sich auf die Zehenspitzen stellte und ihre Lippen den seinen näherte …
Chalida entging nicht, dass ihre Mutter am nächsten Tag eine Gelegenheit suchte, mit ihr über Musheer zu sprechen. Deshalb flüchtete sie sich in eifrige Geschäftigkeit: Mal debattierte sie aufs Heftigste mit ihren Cousinen, dann bürstete sie voller Feuereifer ihren Hund und half später sogar in der Küche aus. Wenn sie sich allein wähnte, versuchte sie, zum Männertrakt zu gelangen, aber sobald sie auch nur in die Nähe des Gangs kam, der zu den Räumen der Männer führte, tauchte Tamu oder eine der Dienerinnen wie aus dem Nichts auf, woraufhin sie immer wieder hastig das Weite suchte. Am späten Nachmittag gelang es Chalida, sich ungesehen in den großen Patio zu verziehen. Nervös verbarg sie sich hinter den Hecken und hoffte, dass auch Aaron den Weg hierherfinden würde. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als sie endlich Schritte hörte, und sie wollte schon befreit »Aaron!« rufen und zu ihm hineilen, als sie im letzten Moment ihre Mutter erkannte und zumindest ihren Ausruf noch unter einem Hustenanfall verbergen konnte. Ihre Mutter hob irritiert die rechte Augenbraue, sagte aber nichts weiter als: »Endlich erwische ich dich einmal allein.«
Sie wies sie an, sich mit ihr auf die gemauerte Bank neben dem Eingang zu setzen, und seufzte. »Jetzt guck nicht wie ein Kalb auf dem Weg zur Schlachtbank, Kind. Und tu nicht so, als wüsstest du nicht ganz genau, worüber wir reden müssen!«
Chalida sah zu Boden und schluckte. Möglicherweise war es kein Zufall, dass ihre Mutter sie ausgerechnet in dem Patio gesucht hatte, in dem sie gestern mit Aaron gewesen war. Krampfhaft überlegte sie, wer sie hier gesehen haben könnte, und kam auf Yayah. Der vorwitzige Kerl war ja immer überall da unterwegs, wo man ihn am wenigsten vermutete, und seine große Schwester zu verpetzen war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Wut stieg in ihr auf. Sie wappnete sich gegen die Vorwürfe, mit denen ihre Mutter sie nun ohne Zweifel überschütten würde, und wagte nicht daran zu denken, wie Abdarrahman reagieren würde, wenn auch er Wind von dem Ganzen bekam. Doch als sie wieder zu Zahra sah und mit einem gequälten »Mutter« Gnade für Aaron erflehen wollte, ging ihr auf, dass ihre Mutter gar nicht wütend aussah. Verwirrt presste sie die Lippen wieder aufeinander.
In der Tat begann Zahra ihre Rede mit einer liebevollen Geste: Sie strich Chalida die kastanienbraunen Locken aus dem Gesicht, mokierte noch nicht einmal den fehlenden Hidschab und schenkte ihr stattdessen ein liebevolles Lächeln. »Du hast dich sicher gewundert, dass ich dich gestern von Tamu habe rufen lassen, um Musheer zu begrüßen …«
Chalida sah sie unsicher an.
»Ich … ich hatte in Granada trotz all dem Grauen, das ich dort erlebt habe, Zeit zum Nachdenken, viel Zeit sogar, und habe mich daran erinnert, wie es mir damals ergangen war, als meine Eltern mir von meinem Bräutigam erzählt haben. Ihre erste Wahl war auf einen jungen Mann gefallen, einen Gelehrten, der in Marokko lebte, und wann immer ich an diese Hochzeit dachte, schnürte sich mir die Kehle zu – so groß war meine Angst vor dieser Ehe, weil ich keine Ahnung hatte, was mich mit diesem Mann erwarten würde!« Zahra drückte Chalidas Hand. »Du hast Musheer zumindest schon ein Mal gesehen, du weißt, dass er deinem Bruder ein guter und treuer Freund ist, und auch wenn dies nicht den Sitten entspricht, will ich dir jetzt überdies erlauben, dass du dich mit Musheer, solange er hier bei uns ist, ein- oder zweimal
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