Das Geheimnis der Maurin
zugleich drängte sich ihr der Gedanke auf, dass sie doch bei ihren Eltern schon erlebte, wie unendlich schwierig eine Beziehung zwischen den Angehörigen verschiedener Glaubensgemeinschaften war. Sollten ihre Gefühle für Aaron sie irreleiten? Gewiss konnte ihr Gott ihr Verhalten nicht gutheißen, kein Gott würde das, gleich welcher Religion …
»Allmächtiger, so hilf mir doch!«, flehte sie, »hilf mir, und straf nicht Musheer für mein Vergehen. Ich flehe dich an: Mach, dass er wieder gesund wird!«
Chalida griff erneut nach dem Wasserbecher und dem Tuch, befeuchtete es, tupfte behutsam Musheers Lippen ab und träufelte ihm ein paar Tropfen in den Mund. Anschließend fühlte sie ihm die Stirn und legte einen kalten, feuchten Lappen darauf. Gut zwei Stunden später kam Tamu, um den Verband zu wechseln; erst nach dem dritten Versuch gelang es der alten Berberin, sich hinzuknien. Als Chalida die Wunde sah, erschrak sie zutiefst und schämte sich für die Küsse, die sie Aaron gegeben hatte, endgültig in Grund und Boden.
Obwohl Tamu immer wieder den Eiter abfließen ließ, die Wunde spülte, Honigumschläge auflegte und Chalida Musheer im halbstündigen Rhythmus einen fiebersenkenden und wundheilenden Sud einflößte, schien er sich nicht zu erholen. Er war nur über kurze Zeitspannen bei Bewusstsein und versank am Abend endgültig in Apathie. Von Stunde zu Stunde krampfte sich Chalidas Herz mehr zusammen.
Das alles ist nur meine Schuld, allein meine Schuld!,
pochte es in ihrem Kopf, denn je länger sie darüber nachdachte, desto mehr war sie davon überzeugt, dass es bei Musheers heftigem Rückfall nicht mit rechten Dingen zugegangen sein konnte. Und selbst wenn der eine oder der andere Gott vielleicht zu beschäftigt gewesen war, um sich die Zeit zu nehmen, ein Maurenmädchen so hart zu bestrafen, gab es immer noch die Dschinns und viele andere Dämonen, die für eine Bestrafung in Frage kamen. Niemals hätte sie es wagen dürfen, einen Nichtgläubigen zu küssen und damit ihre Ehre und die ihrer Familie zu beschmutzen!
Pausenlos betete sie
du’as
und erflehte vom Allmächtigen Vergebung, Schutz und Musheers Genesung. Dazwischen wanderte ihr Blick immer wieder zu dem bleichen, reglosen Gesicht, das milde, ja fast sanft wirkte und etwas Verletzliches an sich hatte, was nichts mit seiner Wunde, sondern einzig mit seiner Ausstrahlung, mit seinem Wesen zu tun hatte …
Erst am Abend betrat Zahra Musheers Krankenzimmer. Chalida zuckte zusammen, als sie sah, wie blass ihre Mutter war und dass sie immer wieder haltsuchend nach der Wand greifen musste. Als sie aufstehen und sie stützen wollte, winkte diese jedoch ab. »Nein, lass, es geht schon. Ich lege mich auch gleich wieder hin, aber ich musste doch wenigstens kurz sehen, wie es Musheer geht, und wenn Tamu hundertmal meint, ich könne ohnehin nichts weiter für ihn tun.«
Sie ließ sich von Chalida die Wunde zeigen und krauste bekümmert die Stirn. Zwar gab es noch keine neuen schwarzen Wundränder, aber von der »Wunderheilung«, die Tamu ihnen versprochen hatte, war leider ebenso wenig zu sehen.
»Und dir fällt nichts ein, was wir noch versuchen könnten?«, fragte Zahra Tamu, die ihr gefolgt war.
»Ihr wisst so gut wie ich, dass man manche Dinge in die Hände Allahs legen muss«, erwiderte sie. »Inschallah, so Gott will, wird er die Nacht überstehen und damit vielleicht morgen über den Berg sein. Und wenn Gott nicht will …« Sie hob die Schultern. »Gott ist der Allmächtige. Er allein entscheidet über unser Schicksal!«
Zahra bot Chalida an, sie zumindest für eine Stunde abzulösen, aber die schüttelte den Kopf. »Danke, Mutter, ich sehe doch, dass es Euch nicht gutgeht, und ich … ich bleibe gern weiter bei ihm. Wenn etwas Besonderes ist, rufe ich Euch natürlich sofort!«
Verwundert hob Zahra die Augenbrauen. »Dann iss wenigstens eine Kleinigkeit. Nach dem Essen kannst du weiter bei ihm wachen.«
»Aber …«
»Chalida, geh jetzt und iss etwas, damit du bei Kräften bleibst!«
Notgedrungen erhob sich Chalida, verließ den Raum und stieß fast mit ihrem Bruder zusammen.
»Und?«, fragte er heiser.
Chalida konnte nur hilflos die Achseln heben. »Frag Mutter. Sie ist gerade bei ihm.«
Chalida eilte zur Küche, wo sie auf Aaron traf, der Brennholz in den Herd geschafft hatte.
»Endlich sehe ich dich wieder!«, seufzte er und richtete sich auf. »Wie geht es Musheer?«
Chalida biss sich auf die Lippen, aber auch damit konnte
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