Das Geheimnis der Maurin
sie nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Aaron warf einen schnellen Blick in den Flur, und da dort niemand zu sehen war, zog er Chalida mit sich in den hintersten Winkel der Küche und nahm sie, Tröstliches murmelnd, in den Arm. Im ersten Moment klammerte sich Chalida aufschluchzend an ihn und wäre am liebsten ganz in ihn hineingekrochen, aber dann flammte ihr schlechtes Gewissen auf. Sie bezwang ihre Tränen, rückte von ihm ab und wischte sich entschieden über die Wangen. »Ich … wir dürfen das nicht, Aaron, bitte, mach es mir nicht so schwer!«
Er hob die Hände. »Aber …«
»Aaron, so versteh doch! Vielleicht will der Allmächtige mich strafen, weil wir … weil du und ich … und das, wo ich doch Musheer versprochen bin! Oder die Dämonen holen jetzt erst ihn und dann mich und dann …«
»Aber Chalida, was redest du da? So etwas darfst du nicht denken, niemals! Die Gefühle, die wir füreinander empfinden, die … niemals würde der Ewige uns dafür bestrafen! Er ist auf unserer Seite, daran glaube ich ganz fest. Und auch du musst daran glauben, hörst du? Seit dem Tag, an dem ich mit Mosche und seiner Frau bei euch auf der Farm angekommen bin, bist du für mich … alles. Ja, einfach alles, Chalida! Mit dir kam das Glück zurück in mein Leben, nachdem meine Eltern in diesem grauenhaften Pogrom …«
Als er sah, dass Chalida erneut Tränen in die Augen stiegen und sie den Kopf schüttelte, brach er ab und rannte aus der Küche. Chalida hob die Hand, sie wollte ihm nachgehen, ihn zurückhalten, aber da hörte sie Tamus schwerfällige Schritte im Flur, und dann betrat diese auch schon den Raum. Die Augenbrauen zusammengezogen, blickte die Alte sie forschend an. Mit flatternden Lidern wandte sich Chalida zum Schneidebrett und legte den Brotlaib darauf, um sich ein Stück abzusäbeln, obwohl sie nicht die geringste Absicht hatte, die Scheibe auch zu essen. Musheer … Aaron … und dazu Tamus scharfer Blick im Rücken … Ihre Finger krallten sich so fest in das Brot, dass Tamu neben sie trat, sie mit einem Kopfschütteln beiseiteschob und mit unverständlichem, aber alles andere als freundlich klingendem Knurren das Abschneiden der Scheibe übernahm.
In der Nacht ging es Musheer zunehmend schlechter. Seine Stirn glühte so sehr, dass Chalida ihm ständig kalte Umschläge auflegte, jedes Mal aufs Neue inständig hoffend, dass sein Fieber nun endlich wenigstens ein bisschen zurückgehen würde, doch es schien das genaue Gegenteil der Fall zu sein. Gegen Mitternacht schluckte Musheer nicht mehr: Das Wasser, das Chalida ihm einflößte, rann ihm aus dem Mundwinkel, geradezu, als habe er beschlossen, dass es nun des Leidens genug sei. Chalida redete sich ein, dies läge nur daran, weil er wieder das Bewusstsein verloren hatte, aber wirklich glauben konnte sie es nicht. Immer wieder legte sie ihm die Hand auf die Brust, um sicherzugehen, dass er noch atmete, und schluchzte schließlich: »Mein Gott, bitte, bitte hilf ihm doch endlich, und mach, dass es ihm bessergeht! Lass nicht ihn für meine Sünden büßen!« Schließlich sank ihr Kopf auf seine Brust, und sie stöhnte: »Und wenn ich dir schwöre, Aaron nie mehr zu küssen – hilfst du Musheer dann? Ja, wenn du machst, dass Musheer wieder gesund wird, dann … dann heirate ich ihn, ich schwöre es bei meinem Leben! Aber bitte, mach, dass er sich endlich erholt, und lass nicht zu, dass er mir unter den Händen wegstirbt. Ich will nicht an seinem Tod schuld sein!«
Im Laufe der Nacht wiederholte Chalida ihren Schwur noch viele Male, und da sich an Musheers Zustand weiterhin nichts änderte, leistete sie denselben Schwur zur Sicherheit auch dem Gott ihres Vaters.
Mit einem Mal setzte Musheers Atmung aus. Panisch rüttelte Chalida an seiner Schulter, woraufhin er tatsächlich wieder zu atmen begann, aber der Schrecken saß ihr tief in den Knochen, und fortan wagte sie nicht mehr, den Blick auch nur einen Lidschlag lang von ihm zu nehmen.
Gegen drei Uhr früh half Chalida Tamu, den Verband zu wechseln, und von der Wunde schlugen ihnen so schlechte Gerüche entgegen, dass Tamu den Kopf schüttelte und nur auf Chalidas Drängen hin noch einmal von dem Honig auftrug.
Als sie wieder gegangen war, fing Chalida, inzwischen selbst wie im Fieber, erneut mit den kühlenden Umschlägen an, und irgendwann war sie so müde und erschöpft, dass sie kaum noch gegen den Drang ankam, den Kopf auf Musheers Bettlager abzulegen, um
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