Das Geheimnis der Maurin
Letztendlich trieb sie die Sorge um ihren Sohn und Musheer zumindest dazu, ihren Bruder um Rat zu fragen, aber Raschid wusste auch nicht mehr als sie und weigerte sich strikt, Jaime für sie auszuhorchen. »Zahra, du musst das Gespräch mit ihm suchen,
du!
Und ich kann nicht verstehen, dass du das nicht längst getan hast!«
Die Vorwürfe ihres Bruders und das Warten, die Unsicherheit, das Bangen um ihren Sohn und künftigen Schwiegersohn setzten vieles in Bewegung. Zahras Wut auf die Christen und Jaime flaute ab, sie wurde nachdenklicher, empfindsamer – und zumindest in Bezug auf Jaime auch milder. Tatsächlich verstand sie von Tag zu Tag besser, dass er nicht anders hatte handeln können, als sie zu verlassen, und er sich, von seiner Warte aus betrachtet, durchaus im Recht fühlen konnte. Trotzdem war sie noch nicht bereit, einen Schritt auf ihn zuzugehen.
Dabei vermisste sie ihn von Tag zu Tag mehr: Es war, als sei ihr mit ihm ein Teil ihres Körpers entrissen worden, und statt dass diese Wunde mit den Wochen heilte, schien sie immer größer zu werden, sie schwärte, gärte, pochte und hörte einfach nicht auf, weh zu tun.
Auch die Stimmung auf der Farm war kaum dazu angetan, sie auf andere Gedanken zu bringen. Obwohl Musheers Heilung endlich gut voranschritt, erschienen alle weiter bedrückt, fast als befürchteten sie, bald trotzdem einen Toten beklagen zu müssen – und auch ohne dass sie darüber ein Wort verloren, wussten alle, wer das sein würde: das maurische Volk.
Die dunkle Stimmung drückte wie tiefhängende, schwarze Wolken auf die Familie, so dass Zahra beschloss, obwohl Musheer zum ersten Mal wieder zum Essen aufstehen wollte, weiterhin gemeinsam mit allen an einem Tisch zu speisen: Die Kinder schienen die Kraft, die aus der Gemeinschaft der Erwachsenen entstand, derzeit dringend zu benötigen. Um nicht völlig den Sitten zu widersprechen, trug sie ihrer Tochter auf, Hidschab und Niqab anzulegen, und auch sie selbst verschleierte sich. Als Raschid nach Hause kam, gingen sie zu Tisch und mussten von ihm erfahren, dass Talaveras Versuche, die Köpfe der am Aufstand beteiligten Mauren zu retten, erneut an Cisneros’ und Tendillas Widerstand gescheitert waren.
»Bis zum Ende der Woche wird Tendillas endgültige Entscheidung erwartet«, endete er und fügte mit Blick auf Abdarrahman und Musheer hinzu, dass sie – wie auch immer diese Entscheidung ausfallen mochte – auf seine Hilfe rechnen konnten. Ein mageres Nicken der beiden war die Antwort, denn ihnen war bewusst, dass ihnen im Ernstfall niemand würde helfen können, und auch wenn keiner das Wort »Flucht« auch nur zu denken wagte, hing es doch in der Luft.
Zahra bemühte sich, ruhig und gefasst zu wirken, und ermunterte vor allem die Kinder, ordentlich zuzugreifen – »Die Albóndigas sind Maryam heute wieder besonders gut gelungen!«. Dennoch lud sich jeder nur wenig auf den Teller und brachte selbst davon kaum einen Bissen herunter.
Die Einzige, die auch noch etwas anderes beschäftigte, war Chalida: Immer wieder sah sie für winzige, kaum lidschlaglange Momente zu Aaron hinüber, den sie heute zum ersten Mal seit vielen Tagen wiedersah, weil er bei Mosche in Granada gewesen war, und jedes Mal brauchte sie viele, viele Atemzüge, bis sie das Zittern ihrer Hände wieder unter Kontrolle gebracht hatte. Doch nicht einmal Aaron bemerkte das: Auch er war so sehr über Raschids Bericht erschrocken, dass er kaum noch zu den anderen hinzusehen wagte, und zu Chalida zu blicken vermied er sowieso, seit sie ihn in der Küche so endgültig abgewiesen hatte. Er war nicht ohne Grund zu Mosche nach Granada gegangen …
Mit einem Mal vernahmen sie im Hauseingang schwere Schritte. Während sich die Erwachsenen noch unsicher ansahen, sprang Chalida schon mit einem hellen Aufblitzen in den Augen auf und rannte in die Eingangshalle. In ihrem beinahe geschluchzten »Vater, oh Vater!« schwang ihre ganze Seelenpein der letzten Wochen mit.
Auch Yayah schoss von seinem Platz hoch und stürzte Jaime mit einem Jubellaut entgegen, wohingegen Abdarrahman erbleichend zu seiner Mutter sah. Auch Musheer rutschte unbehaglich auf seinem Platz hin und her. Zahra wandte sich an ihren Bruder, in ihren Augen den deutlich zu lesenden Vorwurf, dass er sie ruhig über Jaimes Ankunft hätte informieren können, doch Raschid hob abwehrend die Hände. »Du irrst, Zahra, ich hatte keine Ahnung!«
Nach einem Moment des Zögerns und einem einvernehmlichen Blick mit
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