Das Geheimnis der Maurin
Seit sie zurück auf der Farm war, fürchtete sie sich vor dem Moment, in dem die Kinder fragen würden, wann ihr Vater endlich auch von Granada nach Hause käme.
Matt und mit stechenden Kopfschmerzen zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Sie ruhte nicht lange, und als sie sich erheben wollte, wurde sie von so heftigem Schwindel und Übelkeit erfasst, dass sie sich sofort wieder hinlegen musste. Auch eine Stunde später ging es ihr trotz Tamus Kräutertee noch so schlecht, dass an eine Pflege von Musheer durch sie nicht zu denken war.
»Und was jetzt?«, fragte sie Tamu verzweifelt. »Abdarrahman weiß noch fast nichts von Krankenpflege, den Dienern traue ich in diesem schweren Fall noch weniger zu, und du schaffst das doch auch nicht mehr.«
»Da habt Ihr leider recht. Die alten Knochen wollen einfach nicht mehr so, wie sie sollen.«
»Am besten frage ich Deborah, ob sie sich um Musheer kümmern kann …«
»Nein, Mutter, bitte, lasst mich nach ihm sehen!«
Zahra und Tamu sahen erstaunt zur Tür, wo Chalida stand und sie flehend ansah. »Ich … ich kann mich um ihn kümmern!«
Die alte Berberin strich sich nachdenklich über die Stirn und sah dann mit erhobenen Augenbrauen zu Zahra. »Bei den Pferden stellt sie sich geschickt an; da hat sie goldene Hände!«
Zahra warf Tamu einen befremdeten Blick zu: Es stand in den Sternen, ob Musheer auch nur diesen Tag überleben würde. In ihren Augen war Chalida viel zu jung, um mit einer solchen Situation zu Rande zu kommen.
»Bitte!«, bedrängte Chalida sie weiter. »Ich werde mich genau an Eure Anweisungen halten, und … und mir ist schon klar, wie schlecht … also, was … was passieren kann.«
Zahra fragte sich, wieso sich Chalida so sehr um diese Aufgabe bemühte. Hatte das kurze Gespräch ihre Einstellung zu Musheer etwa schon ändern können? Da ihr keine Alternative einfiel und Tamu ihr drängend zunickte, stimmte sie schließlich zu.
»Das Wichtigste ist, dass du ihm Wasser einflößt«, erklärte Tamu Chalida an Musheers Krankenlager und zupfte deren Niqab noch ein kleines Stück höher über die Nase. Auch wenn Musheer seines hohen Fiebers wegen wie besinnungslos dalag und sie kaum wahrnehmen würde, sollte doch die Schicklichkeit, soweit es irgend möglich war, gewahrt bleiben. »Die Flüssigkeit wird helfen, trotz des Fiebers die Säfte im Fluss zu halten! Gib ihm immer abwechselnd Wasser und diesen Kräutersud hier.«
Chalida nickte ihr zu und machte sich an ihre Aufgabe. Eine Zeitlang blieb Tamu noch bei ihr stehen, nickte dann befriedigt und machte Abdarrahman Zeichen, das Zimmer mit ihr zu verlassen und Chalida ihre Arbeit tun zu lassen. Unwillig schnaubte Abdarrahman auf.
Leise zog Tamu die Tür hinter ihnen zu. Als Chalida nun allein mit Musheer war, wagte sie zum ersten Mal, ihn richtig anzusehen. Die Totenbleiche seines Gesichts erschreckte sie, und sie machte sich erneut die heftigsten Vorwürfe, sich so vehement gegen eine Ehe mit ihm aufgelehnt zu haben. Sie wusste, dass der Gott ihres Vaters ein strafender Gott war; das hatte sie ihn oft genug sagen hören. Der Christengott strafte alle, die nicht seinen Geboten folgten – die so anders nicht waren als die Vorschriften des Korans. Ob der Christengott wohl auch Muslime strafen konnte, die sich gegen den elterlichen Willen vergingen – so wie sie, als sie Aaron geküsst hatte? Immerhin gehörte ihr Vater der christlichen Religion an, und da gab es das Gebot: »Du sollst Vater und Mutter ehren!«
Er war zweifelsohne ein grausamer Gott: Oder wie sonst konnte er diese Autodafés gegen die Juden zulassen, von denen sie Deborah und ihre Mutter hatte erzählen hören? Und wenn sie noch bedachte, dass sie trotz Allahs Hilfe den Krieg gegen die Christen verloren hatten … War nicht auch dies ein Beleg für dessen unfassbar große Macht?
Und ihr eigener Gott, der Gott der Muslime? Musste nicht auch er gegen sie zürnen? Genau wie der Christengott verlangte auch er Gehorsam und dass sie den Mann ihrer Glaubensgemeinschaft heiratete, den ihre Eltern für sie ausgewählt hatten. Doch statt sich deren Willen zu fügen, hatte sie einen getauften Juden geküsst …
Siehe diejenigen, welche glauben und hernach ungläubig werden, dann wieder glauben und dann noch zunehmen an Unglauben, denen verzeiht Allah nicht und nicht leitet Er sie des Weges,
hieß es in einer Sure.
Chalida strich sich über die Stirn. Allmächtiger, was willst du mir sagen?, hämmerte es in ihrem Kopf, und
Weitere Kostenlose Bücher