Das Geheimnis der Maurin
ihm erwarten, und auch von mir nicht. Jede Nacht erscheinen mir vor meinem inneren Auge die Bilder, wie Adilah in dieser Blutlache gelegen hat. Ich kann einfach nicht wieder in eine Kirche gehen!«
»Mit dieser Weigerung wirst du Adilah nicht wieder lebendig machen – und Abdus Leid nicht rächen!«
»Aber ich kann mir zumindest mein Seelenheil bewahren. Das ist das Einzige, was uns in diesen Zeiten bleibt.«
»Und was hilft dir dein verdammtes Seelenheil, wenn du im Kerker sitzt? Und was ist überhaupt mit den Kindern? Merkst du nicht, wie du auch sie mit deinem Verhalten in Gefahr bringst?«
»So oft, wie du sie in die Kirche schleppst, wird niemand wagen, ihnen auch nur ein Haar zu krümmen!«
»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht sicher!« Jaime sah sie nachdrücklich an. »Kommst du jetzt? Bitte, Zahra!«
»Nein, Jaime. Nein!«
Einen Moment lang blickte Jaime sie an, als sähe er sie zum ersten Mal, dann holte er tief Luft. »Also gut, wenn du und Abdu mit aller Macht euren Untergang sucht, dann werde ich euch nicht länger aufhalten – dabei allerdings auch nicht weiter zusehen. Noch heute werde ich mich zum Neapelheer melden – und wenn ich erst weg bin, könnt ihr endgültig machen, was ihr wollt, denn mir ist mittlerweile klar, dass weder du noch Raschid mich auf die Kinder Einfluss nehmen lassen werdet, also verantwortet auch selbst, was ihr ihnen antut!«
Obwohl seine Eröffnung Zahra wie ein Messer ins Herz fuhr, blieb ihre Miene unbewegt, und sie sagte nichts mehr. Einen Atemzug lang fraß sich Jaimes Blick noch in den ihren, dann drehte er sich um und stürmte davon, wobei er fast Chalida umrannte.
Zahra wusste nicht, wie lange ihre Tochter schon da stand, aber so, wie Chalida sie anstarrte, musste sie auf jeden Fall Jaimes letzte Ankündigung mitbekommen haben. Ihr Gesicht war weiß wie der Hidschab, den sie sich jetzt mit endlos schwerer Geste vom Kopf zog.
»Das … das kann nicht Euer Ernst sein, Mutter. Ihr … Ihr könnt Vater doch nicht einfach gehen lassen, und schon gar nicht nach Neapel!«
»Da wird er schon nicht hingehen«, erwiderte Zahra mit dünner Stimme, und sie schien erst allmählich zu begreifen, was Jaime als Letztes gesagt hatte. »Das … das wird er schon nicht …«
»Und wenn doch?« Chalida griff sich an den Hals. »Was, wenn doch, Mutter?«
»Dann … soll es … so sein«, erwiderte Zahra, jedes Wort so mühsam hervorpressend, als müsse sie zugleich sich selbst überzeugen, dass diese Fakten unausweichlich und unabänderlich waren. »Denn nicht wir … entscheiden über unser Schicksal, sondern … der Allmächtige.« Und dann ging sie einfach an Chalida vorbei in Richtung ihres Gemachs. Sie hatte den Raum schon fast erreicht, als sich Chalida an ihr vorbeidrängte und ihr mit ausgebreiteten Armen den Weg versperrte. »Nein, Mutter, das stimmt nicht! Es ist nicht immer nur der Allmächtige – manchmal sind es auch wir Menschen, die das Schicksal beeinflussen, wahrscheinlich sogar öfter, als wir wahrhaben wollen. Und wenn Vater sein Leben im Kampf um Neapel lässt, Mutter, dann habt Ihr Euch das zuzuschreiben, Ihr – und nicht der Allmächtige!«
Einen Moment lang sah sie ihre Mutter noch mit brennenden Augen an, dann fuhr sie herum und rannte mit wehenden Kleidern ihrem Vater hinterher.
Als die Haustür ins Schloss krachte, sank Zahra erschöpft gegen die Wand und drückte die Stirn gegen den kalten Putz. Müde, unendlich müde fühlte sie sich, ihr Inneres ein einziges Meer aus Trauer und Schmerz.
»Warum, Allmächtiger, warum?«, stöhnte sie.
Erst etliche Atemzüge später fand sie die Kraft, sich von der Wand wieder abzudrücken und den Weg in ihr Gemach fortzusetzen.
Auf dem Weg nach draußen hüllte sich Chalida wieder in ihren Hidschab, doch vor dem Haus fand sie nur noch Aaron vor. Er erklärte ihr, dass Raschid aus Sorge, zu spät zum Gottesdienst zu kommen, schon vorausgeritten sei, und kurz darauf sei ihr Vater aus dem Haus gestürmt, auf sein Pferd gestiegen und davongaloppiert. »Was war denn los? Er ist losgeprescht, als sei der Teufel hinter ihm her!«
Statt ihm eine Antwort zu geben, schwang sich Chalida auf Barbakan und trieb ihn an. »Lauf, mein Guter, lauf, so schnell du kannst!«
Chalida war klar, dass ihr Vater nur auf dem Weg nach Granada sein konnte und er einen kürzeren, aber weniger bequemen Weg als Raschid genommen hatte. Tatsächlich gelang es ihr, ihn einzuholen. Als sie seiner ansichtig wurden,
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