Das Geheimnis der Maurin
Zahra ließ sich auch von ihm nicht aufrütteln; nichts konnte sie aufrütteln, und erst als ihr auffiel, dass Tamu ständig um sie herumstrich, wurde ihr bewusst, dass es wohl in der Tat schlecht um sie stehen musste. Ja, gestand sie sich da ein, ich bin nicht einfach nur müde und aufgerieben, ich bin wundgerieben … und die Wunden heilen nicht mehr.
Sie fühlte sich am Ende – und in Tamus Augen sah sie die Sorge, dass es von dort keine Rückkehr mehr gab.
Am folgenden Sonntag fehlte Zahra die Kraft, auch nur das Bett zu verlassen. Sie ließ ihrem Bruder ausrichten, dass sie nicht mit ihm nach Granada zur Messe reiten könne. Sie hörte ihren Bruder fluchen und kurz darauf ihren Ältesten andonnern, dass zumindest er mit ihnen kommen sollte, dann schlug die Haustür zu, und Zahra ahnte, dass ihr Sohn zum Stall lief und sich Raschids weiterem Drängen durch einen langen Ausritt entzog. Wenig später klopfte jemand schüchtern an ihre Tür.
»Ja?«
Deborah huschte ins Zimmer, schloss die Tür wieder hinter sich und setzte sich neben Zahra.
»Hilft dir Tamus Behandlung denn kein bisschen?«, fragte sie bekümmert.
Zahra hob kaum sichtbar die Achseln.
Mitfühlend strich Deborah ihr das Haar über der Stirn zurück. »Kann es nicht sein, dass du wegen der Geburt noch so matt bist? Manche Frauen werden ja nach der Geburt eines Kindes über viele Monate von einer ebenso unerklärlichen wie tiefgehenden Traurigkeit befallen …«
Zahra deutete ein Kopfschütteln an. »Ich … ich habe mich einfach müde gekämpft und kann nicht verwinden, dass wir alles verloren haben.«
»Aber in deinem Herzen …«
»Ich weiß, das habe ich damals zu dir gesagt, als du die Zwangstaufe annehmen musstest: ›In deinem Herzen wirst du doch deinem Gott treu und immer Jüdin bleiben …‹ Aber erst jetzt, da ich selbst in dieser Situation bin, wird mir bewusst, was das eigentlich bedeutet, von seinem Glauben abgeschnitten zu sein: keine Moschee mehr zu haben, in der man Allahs Nähe suchen kann, den Imam nicht mehr aufsuchen zu dürfen, die Kinder nicht mehr in die Koranschule schicken zu können, wo sie den Glauben unserer Väter lernen, bei jedem Gebet in Sorge sein zu müssen, dass man dabei beobachtet wird, wie man sich gen Mekka wendet … Und dann erst die Angst, dass die Kinder sich verraten könnten. Aber wir müssen sie doch beten lehren, wenn wir ihnen nicht den Weg zum Paradies versperren wollen! Spätestens, wenn sie ihren siebten Geburtstag vollendet haben, müssen auch sie täglich die fünf Gebete sprechen, und je eher man sie damit vertraut macht, desto mehr wird es ihnen in Leib und Seele übergehen! Aber wie kann ich das später bei Mohammed wagen? Wie soll ich ihm meinen Glauben näherbringen, wenn ich Angst davor haben muss, dass er mich eines Tages mitten in der Messe fragt, warum die Christen sich beim Gebet nicht wie wir gen Mekka wenden? Was, wenn er auf der Straße davon zu reden beginnt, dass wir unsere Tiere ausbluten lassen, wenn wir sie schächten? Oder wenn er irgendwo erzählt, dass wir nicht den Sonntag, sondern den Freitag ehren und uns vor dem Beten rituellen Waschungen unterziehen … Mein Gott, es ist unmöglich, dass wir unseren wahren Glauben auf Dauer geheim halten! Ich will nicht ständig mit dieser Angst leben, und ich kann es auch nicht. Inzwischen kann ich Adilah verstehen, zumindest solange ich nicht in Abdus Augen sehe, denn tue ich es und sehe sein Leid, seinen Schmerz, seine Verzweiflung über ihren Tod …« Ihre Stimme brach, und erst, als sie sich geräuspert und mehrmals geschluckt hatte, konnte sie weitersprechen. »Es ist einfach so, Deborah: Ich kann nicht mehr, und deswegen bitte ich euch: Versucht nicht weiter, mich wie einen Ochsen, der sein Tagwerk nicht verrichten will, in diese Kirche zu treiben. Lasst mich, ich bitte euch, wenn euch irgendetwas an mir liegt, lasst mich, und wenn die Büttel der Inquisition kommen, dann will ich mich auch nicht beklagen.«
»Aber die Kinder …« Deborah knetete hilflos ihre Hand. »Zahra, deine Kinder brauchen dich! Und ich bin mir sicher, dass du tief in dir drin sehr wohl noch immer genug Kraft besitzt, du musst sie nur auch finden
wollen!
«
Zahra schloss die Augen und sprach erst etliche Atemzüge später weiter. »Auch mein kleiner Bruder ist ohne Mutter groß und ein aufrechter junger Mann geworden. Ich kann den Kindern nichts mehr geben, im Gegenteil, ich habe das Gefühl, dass ich ihnen nur noch schade. Glaub
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