Das Geheimnis der Maurin
Jaime aber ebenfalls nicht finden. »Vielleicht war er zu traurig, um weiter hier zu sein«, versuchte sie, ihren Sohn über das Verschwinden seines Vaters zu trösten, und merkte, dass sie nicht minder enttäuscht war – obwohl sie wusste, dass es so am besten war. Warum den Schmerz noch immer weiter verlängern?
»Weißt du, wie lange die Überfahrt dauern wird?«, fragte Zahra Abdarrahman, der Mohammed an Chalida weitergereicht hatte und nur noch seinen eigenen Sohn trug.
»Wenn die Winde uns gnädig sind, sollten wir bis zum Abend dort sein, allerdings haben wir von Tanger bis Fez noch viele Tagesmärsche vor uns!«
»Solange wir nur nicht in die Hände von Piraten geraten, will ich alles andere gern hinnehmen!«, seufzte Zahra mit bangem Blick auf ihre Kinder, die mit Chalida ein Stück abseits von ihnen standen.
»Von allen möglichen Wegen nach Marokko ist dieser der kürzeste und sicherste. Die Karavelle wird von fünf Schiffen begleitet, und alle sind mit Kanonen und Soldaten bestückt! Außerdem hatten wir keine andere Wahl.«
»Du schon«, gab Zahra zurück, schüttelte dann den Kopf und strich ihrem Ältesten über den Arm. »Nein, sag nichts, ich weiß, eigentlich auch du nicht. Schade nur, dass Adilah …« Sie beendete den Satz nicht, da sie wusste, dass ihr Sohn sie auch so verstand. Sie strich ihm noch einmal über den Arm und sah wieder nach Yayah, der noch immer seinen Vater am Kai suchte. Mit einem Mal meinte Zahra ihn zu sehen.
»Da, schau, da hinten, bei den Weinfässern«, rief sie ihm zu und wies in die entsprechende Richtung, musste dann aber erkennen, dass sie sich getäuscht hatte. Da fuhr ihr eine heftige Bö so überraschend ins Gesicht, dass sie ihr fast den Hidschab wegwehte – wie überhaupt ihr ganzes Leben von ihr wegzuwehen schien. Mit einem Mal gab es auch für sie nichts Dringenderes mehr, als Jaime noch einmal, wenigstens noch ein einziges Mal zu sehen. Immer brennender suchten ihre Augen den Kai ab, ihre Kinder rannten auf die andere Bootsseite und hofften, ihren Vater beim Auslaufen auf der anderen Kaiseite sehen zu können, doch Zahra wollte ihn hier weitersuchen. Nur ein Mal, dich nur noch ein Mal sehen!, flehte sie pausenlos, aber nirgends konnte sie ihn entdecken. Nirgends, nirgends!
»Ich …« Jemand räusperte sich hinter ihr.
Zahra fuhr herum und glaubte, nicht richtig sehen zu können.
»Was …«, stotterte sie und presste sich die Hände vor den Mund.
»Sag nichts«, brummte Jaime verlegen. »Aber … aber ich kann euch nicht gehen lassen. Ich weiß nicht, was wird, Zahra, vor allem nicht, was mit uns wird, aber ich will dich nicht verlieren, und vielleicht haben wir in Marokko ja doch noch eine Chance, wenn ich erst wieder eine Tunika und eine Djellaba trage.«
Zahra starrte ihn an, als hätte sie eine Erscheinung. »Du … du sagst das im vollen Ernst?«
»Nun ja«, grinste Jaime. »Würde ich es nicht, täte ich gut daran, sofort über Bord zu springen, denn du weißt ja, was für ein lausiger Schwimmer ich bin!«
Einen Moment lang sah Zahra ihn fassungslos an, dann warf sie sich ihm an den Hals und drückte sich so fest an ihn, dass er kaum noch Luft bekam.
»Wenn du nicht augenblicklich locker lässt«, keuchte er, »springe ich doch noch von Bord!«
Lachend und weinend zugleich ließ Zahra ihn wieder los und zog ihn zu den Kindern. »Yayah, Chalida, Abdu, schaut, so schaut doch her: Euer Vater ist hier! Hier ist er, an Bord! Er kommt mit uns mit!«
Und als sie ihn nun noch einmal ansah, ihn ansah voller Scheu und Unsicherheit, entdeckte sie so viel Liebe und Zuversicht und Sehnsucht in seinen Augen, dass sie ihn noch einmal umarmte, weit zärtlicher, weit behutsamer als zuvor, aber so innig, dass sie ihm mit tausend Worten nicht mehr hätte sagen können. Ja, in Marokko würden sie neu anfangen können und ihre Chance bekommen – und sie zu ergreifen wissen! Und während Jaime sie noch küsste, sprangen von der Seite auch schon die Kinder an ihm hoch und jubelten so laut, dass Zahra sich lachend die Ohren zuhalten musste.
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Historische Nachbemerkung
D er Tag, an dem die Katholischen Könige mit Granada auch noch die letzte maurische Bastion in Besitz nahmen, war ein Freudentag für die kastilischen Christen – und ein Tag der Trauer für die dort seit über siebenhundert Jahren ansässigen Mauren und Juden. Viele von ihnen befürchteten, dass die scheinbar so vorteilhaften Kapitulationsbedingungen nur Lockfutter und die
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