Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
Nein, sie würde nicht davonlaufen. Und zwar nicht deswegen, weil eine Flucht einem Schuldeingeständnis gleichkäme, sondern weil sie nicht davonlaufen wollte. Das war sie sich selbst, Bruder Thomas, Berbelin und vor allem Chassim schuldig. Und nicht nur das – auch der Graf und seine Familie müssten dafür bezahlen, wenn sie bei Nacht und Nebel das Weite suchte. Nein, sie hatte sich um Chassim zu kümmern und sich ihrer Vergangenheit und dem Erzbischof zu stellen. Es blieb ihr noch eine Galgenfrist, um sich auf ihre Verteidigung vor Gericht vorzubereiten. Sie würde sich zur Wehr setzen. Sie wollte nicht länger Opfer sein, Opfer von Verleumdungen, von Lügen und Verschwörungen. Jetzt, wo sie wusste, was auf sie zukam, war es irgendwie leichter, der Gefahr ins Auge zu blicken, als wie bislang in der ständigen Angst zu leben, dass ihre Identität aufflog.
Aber sie würde sich nicht nur wehren, sie würde vom Erzbischof für das Schicksal ihrer Eltern Rechenschaft fordern und ihn damit konfrontieren, was sie über ihn wusste. Dazu musste die Verhandlung in der Öffentlichkeit stattfinden. Das war es, was sie vom Grafen einfordern konnte, er musste dafür Sorge tragen, dass der Prozess nicht hinter verschlossenen Türen vonstatten ging. Wahrscheinlich war das gar keine so unerfüllbare Forderung, denn auch dem Erzbischof musste daran gelegen sein, die Medica vor aller Augen anklagen und als Hexe schmähen zu können.
Anna wandte sich an die Gräfin: »Hoheit, ich danke Euch, dass Ihr uns gewarnt habt. Wir werden darüber nachdenken, jeder für sich, was das für uns bedeutet. Euch, Thomas, und dir, Berbelin, steht es natürlich frei, zu tun und zu lassen, was ihr für richtig haltet. Ich für meinen Teil werde so lange bei Junker Chassim bleiben, wie es nötig ist.« Sie sah, dass Bruder Thomas aufbegehren wollte, und ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen. »Das ist mein unumstößlicher Beschluss!«
Keiner der Anwesenden wagte es, ihr zu widersprechen.
Dann fügte sie noch etwas hinzu: »Und kein Wort darüber zu Junker Chassim! Er würde sich nur unnötig aufregen, was seine Genesung gefährden könnte!«
Damit verließ sie die Küche und begab sich zu ihrem Patienten. Als sie sah, dass er trotz des Fiebers ruhiger schlief, ließ sie ihn mit seiner Schwester allein.
In der Nacht träumte Anna einen wirren Traum, in dem ihre Eltern sie unter Tränen baten, doch endlich zu kommen. Sie wollte ihnen zu Hilfe eilen, aber irgendetwas hielt sie wie eine eiserne Klammer fest, so dass sie sich nicht von der Stelle bewegen konnte, so sehr sie sich auch abmühte. Sie sah an sich herab und stellte fest, dass es der Erzbischof war, mit seinem pockennarbigen Gesicht und in vollem Ornat, der sie mit seiner beringten Hand am rechten Fußknöchel gepackt hatte und nicht mehr losließ. Sie wehrte sich und strampelte. Mit dem freien Fuß schlug sie ihm schließlich die Bischofsmütze vom Kopf, und ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie damit eine Todsünde begangen hatte. Mit empörtem Gesicht zeigte der Erzbischof auf seine im Dreck liegende Mitra, zog sie an den beiden Bändern, den Vittae, hoch und hielt sie anklagend vor Annas Augen, der Straßenmatsch troff von der Mütze herunter und verwandelte sich vor Annas nackten Füßen in eine Blutlache. Mit schneidender Stimme und lodernden Augen beschuldigte der Erzbischof sie der Zauberei und Ketzerei . Plötzlich war sie im härenen Büßerhemd auf einem Henkerskarren, der von Gero von Hochstaden gezogen wurde. Sie war mit schweren Ketten an den Karren gefesselt, ihre Haare waren grob geschoren worden und standen in wirren Büscheln nach allen Richtungen ab. Gero, in seinem Harnisch, drehte sich immer wieder zu ihr um und lachte sie mit gebleckten Zähnen an, dabei zeigte er nach vorn, auf einen brennenden Scheiterhaufen.
Sie schrie, aber es kam kein Ton aus ihrer Kehle. Der Scheiterhaufen rückte immer näher. Anna erkannte, dass ihre Eltern schon in den lodernden Flammen standen und sich wanden vor Schmerzen. Sie zerrte an ihren Ketten, aber sie konnte sich nicht losmachen und ihnen helfen. Plötzlich wurde sie von einer Hand an ihrer Schulter gepackt.
Als sie sich umdrehte, war es Berbelin, die sie wachrüttelte. Die Magd hatte ihre Haube auf, war nur mit ihrer Schlaftunika bekleidet und bedeutete Anna mit wilden Gesten, ihr zu folgen. Noch ganz benommen von ihrem Alptraum, stand Anna auf, warf sich eine Decke um die Schultern und folgte Berbelin, die vor ihr die
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