Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
Treppe hinuntereilte und aufgeregt auf die offene Tür der Behandlungsstube wies. Kerzenschein drang hinaus auf den Gang. Oh Gott, dachte Anna, Chassim!
Sie stolperte beinahe über ihre eigenen Füße und rechnete mit dem Schlimmsten, als sie die Behandlungsstube betrat und Bruder Thomas sah, der sie anlächelte und hereinwinkte. Er saß an Chassims Matratze und sagte: »Ihr werdet es nicht glauben, aber unser Patient hat kein Fieber mehr!«
Vor lauter Schreck war Anna stehen geblieben, aber jetzt stürzte sie auf Chassim zu, der sich aufgerichtet hatte, sie anstrahlte und mit heiserer Stimme, aber klar verständlich sagte: »Seid willkommen, Medica. Verzeiht, dass wir Euch zu so unchristlicher Zeit geweckt haben, aber ich habe einen Bärenhunger – ich könnte einen ganzen Ochsen verspeisen!«
Einen winzigen Moment lang konnte Anna nicht glauben, was sie sah und was sie gerade gehört hatte. Dann klatschte sie vor grenzenloser Erleichterung und Freude in die Hände und rief aus: »Gott sei’s gedankt! Halleluja! Herr im Himmel!«
Anna wandte sich sofort an Berbelin, die ungläubig die Hände vors Gesicht geschlagen hatte und auf Chassim starrte, als sei er ein Gespenst. »Berbelin, bitte geh in die Küche und bereite sofort eine kräftige Hühnersuppe.«
Berbelin verschwand, und Anna drehte sich wieder zu Chassim um. »Und Ihr, Junker Chassim«, sagte sie, »Ihr legt Euch wieder hin, bis das Essen fertig ist.«
»Aber …«, wollte Chassim einwenden, doch Anna unterbrach ihn energisch. »Kein Aber! Bitte tut, was ich sage!«
Chassim drehte sich zu Bruder Thomas um und meinte erstaunt: »Ist sie zu Euch auch immer so streng?«
Bruder Thomas verzog das Gesicht zu einer jammervollen Miene. »Oh, jetzt ist sie noch die Liebenswürdigkeit selbst. Ihr solltet sie mal erleben, wenn sie wirklich streng ist. Da zittern mir die Knie, und hier wackeln die Wände!«
Er machte ein so verängstigtes Gesicht, dass Chassim anfangen musste zu lachen. Sein Lachanfall war so heftig, dass ihm der sorgenvolle Blick entging, den Anna und Bruder Thomas sich zuwarfen.
* * *
Gero wunderte sich über das schallende Gelächter, das mitten in der Nacht aus dem Haus der Medica bis zu ihm herüberhallte. Er saß mit seinen beiden Kumpanen am Lagerfeuer und hielt Wache. Seit sein Onkel dem Grafen mitgeteilt hatte, dass der Medica der Prozess gemacht werden sollte, hatte er ihr Haus nicht mehr unbeobachtet gelassen. Seinen Platz verließ er meist erst in den frühen Morgenstunden, um sich auf seinem Zimmer im Gasthaus zur Ruhe zu legen. Seinen Dienst auf Burg Landskron hatte er auf Befehl seines Onkels quittiert. Jetzt galt es, der Hexe bis zu ihrem baldigen Ende auf den Zahn zu fühlen und sie und ihre Besucher sowie ihre geheimen, ketzerischen Tätigkeiten nicht mehr aus den Augen zu lassen. Sollte Anna Ahrweiler auch nur den geringsten Versuch unternehmen, samt ihrem seltsamen Diener, der sich als Mönch ausgab, das Weite zu suchen, würde er mit Lutz und Oswald eingreifen und sie verhaften. Gero hätte das am liebsten gleich getan, aber der Erzbischof hatte es ihm verboten. Das wäre ein Affront gegen den Grafen von Landskron gewesen, der in Oppenheim die Gerichtsbarkeit innehatte.
Die Wache war anstrengend und ermüdend, vor allem bei schlechtem Wetter und nachts. Seit Junker Chassim im Haus der Medica weilte, brannte die ganze Nacht hindurch Licht hinter der Fensterluke im Erdgeschoss, und oft wurde auch im ersten Stock hinter dem Fenster mit den kleinen Glasscheiben Licht gemacht. Gero fragte sich, was da wohl vor sich ging. Schon mehrmals war er, sobald die Dunkelheit hereingebrochen war, entgegen dem ausdrücklichen Befehl seines Onkels um das Haus geschlichen und hatte gelauscht. Er hatte Lutz und Oswald angewiesen, am Feuer zurückzubleiben, weil er hoffte, vielleicht einen Hexensabbat oder sonst irgendeinen Zauber mitzuerleben und aufdecken zu können. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was sich im Hause einer Ketzerin abspielte. Hexen waren nun einmal darauf aus, es mit allem und jedem und insbesondere mit dem Teufel auf jede erdenkliche Art zu treiben, und das wollte sich Gero nicht entgehen lassen, obwohl er unterschwellig einen Heidenrespekt vor Anna Ahrweilers Zauberkünsten hatte, aber das sagte er keinem.
Die Medica mit den verschiedenfarbigen Augen war ihm einfach nicht geheuer, seit sie als Bruder Marian vor seinen Augen ertrunken und in Oppenheim wieder auferstanden war. Er glaubte zu wissen, was ein
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