Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
für ein paar Tage frei gegeben, um meine Eltern zu besuchen. Und dafür hat er mir sein Pferd ausgeliehen.«
Eine bessere Ausrede war Anna nicht eingefallen.
Aber der Erzbischof war anscheinend auf etwas anderes aus.
Er fragte: »War Prior Urban in letzter Zeit krank?«
»Pater Urban? Nein. Er hat über das eine oder andere Zipperlein geklagt, das jedoch seinem fortgeschrittenen Alter zugeschrieben.«
Zum ersten Mal wagte Anna es, den Erzbischof anzusehen. Warum stellte er diese Frage?
»Du hast zwei verschiedenfarbige Augen«, stellte der Erzbischof unvermittelt fest. Anna schlug den Blick sofort wieder nieder, aber es war zu spät. Er fasste sie am Kinn und zog ihren widerstrebenden Kopf erneut nach oben.
»Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«, sagte er, und eine seltsame Schwingung war in seiner Stimme zu vernehmen, als er Annas Augen fixierte. »Tatsächlich. Ein grünes und ein braunes!«
»Er hat den bösen Blick, Eure Eminenz!« Gero konnte sich nicht länger zurückhalten.
»Rede gefälligst nur, wenn du gefragt wirst!«, zischte ihn der Erzbischof an.
»Verzeihung, Eure Eminenz«, entschuldigte sich Gero kleinlaut.
Inzwischen waren die anderen beiden Herren neugierig herangekommen, um ebenfalls Annas Augen zu inspizieren. Anna schlug jetzt nicht mehr demütig die Augen nieder, sondern starrte sie bockig an.
Sollen sie doch meine Augen sehen , dachte sie bei sich. Gott hat mich eben so gemacht, wie ich bin!
Der eine Mann machte drei Schritte rückwärts und bekreuzigte sich. »Heilige Mutter Gottes, steh uns bei!« Er starrte den Erzbischof an. »Kann das möglich sein, Konrad?«
»Wenn man das Undenkbare ausschließt, Lothar, dann bleibt nur eines: Ja, es ist möglich.«
Für Anna sprachen die beiden in Rätseln. Was wollen die von mir? Mich wegen meiner Augen dem Scheiterhaufen übergeben?
Zuzutrauen war es ihnen, selbst im Kloster kursierten Gerüchte über die Grausamkeit des Erzbischofs, was Häretiker und Hexen anging. Anna merkte, wie ihr der Angstschweiß ausbrach.
Der Erzbischof näherte sich ihr. »Wer bist du wirklich, Bruder Marian? Wie lautet dein wahrer Name?«
»Und woher kommst du?«, mischte sich der andere ein, indem er Anna an der Kutte packte. Der Erzbischof sagte kein Wort und ließ ihn gewähren. »Also, Bursche? Und halt mich nicht zum Narren. Du weißt, wer ich bin?«
»Ja, Herr.«
»Dann sag es.«
»Graf Lothar von Hochstaden.«
»Ganz recht. Ich habe mich vorgestellt. Und jetzt bist du an der Reihe. Also – wer bist du?«
»Ich bin Bruder Marian, der Famulus von Pater Urban. Meine Eltern sind einfache Leute. Bauern. Sie leben in Ahrweiler, einem Dorf einen guten Tagesritt von hier.«
Lothar von Hochstaden ließ sie wieder los. Schaute den Erzbischof an. »Glaubst du ihm?«
»Das ist jetzt unerheblich. Es gibt wichtigere Brände, die zu löschen sind.«
Konrad von Hochstaden verschränkte die Arme vor der Brust und stellte Anna die nächste Frage.
»Wann hast du den Prior zum letzten Mal gesehen?«
Anna schluckte, um Zeit zu gewinnen. Dann sagte sie: »Gestern. Bei der Fußwaschung.«
»Nun … dann sollst du wissen, der Prior ist heimgegangen ins Reich Gottes.« Dabei bekreuzigte sich der Erzbischof routiniert, die anderen Herren ebenfalls. Währenddessen ließ Konrad von Hochstaden Anna nicht aus den Augen.
Diese wurde leichenblass, als die Bedeutung der Worte allmählich in ihr Bewusstsein sickerte.
»Pater Urban ist … gestorben? Aber … was ist denn geschehen?«
Der Erzbischof fuhr in gleichmütigem Ton, als plaudere er über das Wetter, fort:
»Man fand ihn tot vor dem Kamin. Offenbar hat ihn ein Herzschlag dahingerafft. Pater Sixtus …«, er wies zu seinem Adlatus, der sich wieder zum Kamin begeben hatte, »… hat Pater Urbans Leichnam in dessen Zelle gebracht.«
Anna schlug die Hände vors Gesicht. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Ein Schluchzen durchfuhr ihren Körper, und sie sank vor Schmerz auf die Knie.
V
P ater Urban lag auf der Strohmatratze in seiner Zelle. Er war mit seiner Kutte bekleidet, jemand hatte ihm die Arme über den Bauch gelegt, so dass sie sich im Schoß überkreuzten. Ein Tuch, das so um den Kopf gebunden war, dass das Kinn nach oben gedrückt wurde und bei der einsetzenden Totenstarre nicht nach unten fallen konnte, verlieh ihm das Aussehen eines schlafenden Patienten mit Zahnschmerzen. Anna kniete vor ihm und machte das Kreuzzeichen auf seiner Stirn, dann erhob sie sich und drehte sich
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