Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
zum Erzbischof und zu Pater Sixtus um, die in der Türöffnung standen und sie beobachteten.
»Ich bitte Euch, Eminenz, um der Barmherzigkeit Gottes willen – lasst mich einen Augenblick mit Pater Urban allein! Ich möchte ein Totengebet für ihn sprechen. Er war immer wie ein Vater zu mir. Ich bin ihm das schuldig.«
»Es sei dir nicht verwehrt«, erwiderte der Erzbischof. »Aber dann kehrst du zurück in deine Zelle und erwartest unsere Entscheidung, wie mit dir weiter verfahren wird. Hast du verstanden?«
»Ja, Eure Eminenz. Gewiss.«
Anna wartete, bis die Tür geschlossen und sie allein mit dem Leichnam war. Dann beugte sie sich über Pater Urban und flüsterte, während ihr wieder die Tränen in die Augen traten:
»Pater Urban – was haben sie bloß mit Euch gemacht?«
Sie wandte sich kurz ab, trocknete ihre Tränen mit dem Ärmel ihrer Kutte und nahm sich zusammen, so gut es ging. Dann drehte sie sich wieder zum Leichnam um. Eine tiefe Traurigkeit erfasste sie, die allmählich das erste Entsetzen ablöste. Pater Urban war stets so gut zu ihr gewesen.
Behutsam strich sie über Pater Urbans Kopf. Wie sie ihn so nachdenklich betrachtete, bemerkte sie, dass seine Hände zu Fäusten geballt waren. Sie wollte seine Hände wenigstens so hinlegen, als würde er beten. Sie versuchte, Pater Urbans verkrampfte Finger zu öffnen. Es war schwer, aber es ging, die Totenstarre setzte nur langsam ein. Als sie die rechte Hand geöffnet hatte, kam die Spitze einer Schreibfeder zum Vorschein. Die schwarze Tinte war inzwischen getrocknet und hatte die ganze Innenfläche der Hand besudelt. Anna sah sie sich genauer an. Ein wenig Blut schien sich mit der Tinte vermischt zu haben. Was hatte Pater Urban nur mit der spitzen Schreibfeder vorgehabt, warum hatte er sie im Todeskampf so fest umklammert, dass sie ihn in die Hand stach? Hatte er etwas schreiben wollen, als ihn der Schlag traf? Des Rätsels Lösung fand Anna in der linken Hand. Um die Finger aufzubiegen, musste sie ihre ganze Kraft aufwenden. In die Innenseite der Hand waren mit der Schreibfeder vier Zeichen geritzt worden, aber das herausquellende Blut hatte sich mit der Tinte vermischt, so dass sie nicht zu entziffern waren. Anna nahm die noch mit Wasser gefüllte Waschschüssel des Priors, tauchte einen Lappen hinein und säuberte die linke Hand von Tinte und Blut. Was sie nun lesen konnte, waren die vier Buchstaben G, I, F und T. Gift. Die Botschaft war eindeutig, ein Irrtum nicht möglich.
Hastig versteckte sie die Schreibfeder in einer Bodenritze, kniete sich nieder und legte die Hände des Toten wieder so aufeinander, dass man die Wundmale nicht sehen konnte. Dann zögerte sie und dachte nach. Sollte sie dem Erzbischof von ihrer Entdeckung berichten? Nein, auf keinen Fall. Schließlich war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er mit der Vergiftung des Priors zu tun oder sie sogar veranlasst hatte. Aber warum nur? Was hatte Pater Urban getan oder gewusst? Jedenfalls würden der Erzbischof oder seine Helfer sie als missliebige Zeugin sofort aus dem Weg schaffen. Ihr war klar, dass sie sich nach dieser Entdeckung in großer Gefahr befand. Eile war geboten, sie musste von Heisterbach verschwinden. Sie wollte gerade aufstehen, da ertönte hinter ihr eine Stimme.
»Was machst du da?«, fragte Pater Sixtus, der in der halbgeöffneten Tür stand, in scharfem Ton. Anna stand da wie erstarrt. Die plötzliche Anwesenheit des erzbischöflichen Adlatus hatte sie zutiefst erschreckt. Sie strich ihre Kutte glatt und erwiderte so unschuldig wie möglich: »Ich habe nur seine Hände gefaltet, bevor die Totenstarre einsetzt, Euer Gnaden.«
Pater Sixtus packte sie am Ärmel und zog sie aus der Zelle. »Genug jetzt, verschwinde von hier!«, sagte er schroff.
Im Gang vor Pater Urbans Zelle wartete Gero von Hochstaden mit gezücktem Schwert auf Anna. Er schob seine Gefangene vor sich her, bis sie ihre Zelle erreichten.
»Du wartest hier, bis wir dich holen. Los, mach, dass du reinkommst!«, befahl Gero.
Er schloss sorgfältig hinter Anna ab und verschwand.
* * *
Als Gero in die große Empfangshalle zurückkehrte, saßen sein Vater, der Erzbischof und Pater Sixtus vor dem Kaminfeuer und stellten sofort das Gespräch ein, das sie gerade geführt hatten. Gero schloss die Tür und gesellte sich zu ihnen, nicht ohne vorher eine ordentliche Portion Brot und Käse von der Platte auf dem Schreibtisch genommen zu haben, die ihnen die Laienbrüder aus der Küche gebracht hatten. Gero
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