Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
ohne Licht jemals den Weg aus diesen weitverzweigten Gängen herausfinden?
»Pst!«, flüsterte Chassim und drängte sie noch weiter in die Nische zurück.
Jetzt hörte sie es auch: Es waren zwei Stimmen, Männer, wie es schien. Und dann war auch ein erster, flackernder Lichtschein zu sehen. Anna drängte sich an Chassim.
»Ob das Soldaten des Erzbischofs sind? Vielleicht haben sie den Ausgang in der Scheune entdeckt!«
Chassim flüsterte zurück: »Gegen bewaffnete Männer können wir nichts ausrichten. Wir müssen uns verstecken.«
Er zog sie und Berbelin noch tiefer zurück in die Nische, die sich zu einem Seitengang erweiterte. Dort hielten sie den Atem an und warteten darauf, dass die Männer näher kamen. Sie sahen zwei Gestalten mit Fackeln in den Händen und Kapuzenumhängen, die hintereinander heranstolperten und an der Abzweigung unschlüssig stehen blieben. Sie wussten anscheinend nicht, wo es weiterging, weil sie in jeden Gang hineinleuchteten. Chassim, Anna und Berbelin standen in ihrer Nische hinter einem Felsvorsprung im Schatten und konnten nicht entdeckt werden, es sei denn, die Männer entschieden sich für den falschen Weg. Dann würden sie unweigerlich auffliegen. Chassim nahm schon seine Krücke wie eine Waffe in die Hand.
Offensichtlich hatten die Männer einen Lageplan dabei, denn im Licht der Fackeln betrachteten sie etwas, was der eine in der Hand hielt, und versuchten sich zu orientieren. Dabei konnte Anna das Gesicht des einen Mannes sehen. Er war graubärtig, aber der Bart konnte die hässliche Brandnarbe, die sich über die Hälfte seines Gesichts zog, nicht verbergen. Als er sich noch ein wenig mehr zur Seite drehte, erkannte Anna ihn urplötzlich und stieß vor Überraschung einen lauten Schrei aus, der in den weitverzweigten Gängen und Gewölben widerhallte und alle, Chassim, Berbelin und die zwei Männer, erschrocken zusammenfahren ließ. Jetzt gab es für Anna kein Halten mehr: Sie stürzte aus der Nische hervor und warf sich dem Mann mit der Brandnarbe um den Hals, der eben noch mit seinem breitschultrigen Begleiter den Plan studiert hatte.
»Vater!«, rief Anna überschwänglich, »Vater! Du lebst!«
Dann schluchzte sie hemmungslos an seiner Schulter, während Chassim nun auch mit Berbelin aus seinem Versteck herauskam und den anderen Mann begrüßte.
»Ihr kommt spät, Bruder Thomas«, sagte er.
X
D er Erzbischof pflegte beim ersten Hahnenschrei aufzustehen. Auch an diesem Morgen fiel es ihm nicht schwer. Bevor er sich nach einem leichten Frühstück voll und ganz der Medica widmen würde, wollte er noch in der Burgkapelle Zwiesprache mit Gott halten. Nachdem er sich mit Hilfe seines Kammerdieners frischgemacht, angekleidet und seinen violetten Pileolus aufgesetzt hatte, begab er sich von seinem bequem eingerichteten Gästezimmer hinunter in die Empfangshalle des Palas, wo seine Soldaten noch auf dem strohbedeckten Boden schliefen.
Konrad von Hochstaden beachtete sie nicht weiter und öffnete die große Eingangstür, um die kühle und frische Morgenluft in vollen Zügen einzuatmen und einen Blick auf die zwei Scheiterhaufen zu werfen, die bereits ihrer Bestimmung harrten. Der Erzbischof genoss seinen frühen Rundgang, denn niemand war unterwegs, der ihn hätte belästigen oder stören können. Umso mehr ärgerte ihn, dass die schwere Eichentür des Bergfrieds, die zu den Verliesen hinunterführte, sperrangelweit offen stand. Und er konnte keine einzige Wache davor entdecken. Was war da los?
»Gero!«, rief er so laut, dass es durch den ganzen Burghof hallte. »Gero?!«
Er hörte Schritte, dann kam ein Bewaffneter mit dem Schwert in der Hand aus dem Bergfried gestürmt: Gero. Er hatte vor Aufregung hektische rote Flecken im Gesicht und eilte auf den Erzbischof zu.
»Sie ist weg!«, brachte sein Neffe mit Mühe und Not heraus.
»Wer ist weg?«, fragte der Erzbischof bestürzt, obwohl er die Antwort schon wusste.
»Die Medica. Sie ist weg! Ich lasse gerade das ganze Verlies von meinen Männern nach ihr absuchen, ihre Zelle ist leer. Und die Tür steht offen.«
Der Erzbischof schloss kurz die Augen, um seine hochkochende Wut zu bändigen und seine Fassung wiederzufinden.
»Das kann nicht sein. Durchsucht alles! Die ganze Burg!« Den letzten Satz schrie er geradezu heraus.
»Erspart Euch die Mühe, Eminenz«, sagte eine klare Stimme im Rücken des Erzbischofs.
Er drehte sich um und sah sich dem Grafen gegenüber. Graf Georg schien aus der Burgkapelle gekommen zu
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