Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
verlassen. Und zwar schon bald.«
Bei diesem Satz, den Anna seit Beginn des Gesprächs mit zunehmender Beklemmung erwartet hatte, setzte ihr Herzschlag für einen kurzen Moment aus. Aber bevor sie etwas sagen oder über die Folgen überhaupt nachdenken konnte, fuhr der Medicus fort:
»Meine Bitte ist folgende. Ihr löst mir mein Haus und alles, was sich darin befindet, bis auf ein paar private Dinge, die ich mitnehmen werde, zu einem angemessenen Preis aus. Meine Schwester und meine Magd werden mit mir gehen, ich habe das schon mit ihnen besprochen. Ihr stellt das Haus Anna zur Verfügung, die dort meine Arbeit weiterführen wird, solange sie dies wünscht. Das ist alles.«
Er war hin- und hergelaufen, während er sprach. Nun blieb er stehen und wartete auf eine Antwort.
Anna wollte etwas sagen, aber es war ihr, als klebte ihre Zunge am Gaumen fest. Sie wusste, wenn der Medicus etwas mit solcher Bestimmtheit aussprach, dann war jeglicher Widerspruch sinnlos. Er würde sich niemals durch Überredungsversuche oder Bitten von seinem Entschluss abbringen lassen. Dass er sie als seine Nachfolgerin einsetzte, war in dieser Endgültigkeit ein Schock für sie, ganz abgesehen davon, dass sie ihren väterlichen Mentor verlor, der ihr mit der Zeit wahrlich ans Herz gewachsen war.
»Halt, da wäre noch etwas«, sagte Aaron und legte seine Hand auf Annas Schulter. »Ich bitte Euch inständig, habt ein Auge auf Anna Ahrweiler. Sie wird von vielen Seiten angefeindet werden. Von der Konkurrenz, weil sie bei einem jüdischen Medicus gelernt hat und weil sie andere Methoden anwendet, als dies allgemein üblich ist. Und von der Kirche, die unsere Kunst nicht anerkennt. Ohne Euren ausdrücklichen Schutz kann sie nicht als Medica arbeiten. Könnt Ihr mir dafür garantieren?«
Der Graf ging auf den Medicus zu und gab ihm seine Hand. »Ihr habt mein Ehrenwort als Graf von Landskron. Es soll alles so geschehen, wie Ihr es wünscht. Ich nehme mit großem Bedauern zur Kenntnis, dass Ihr uns verlassen wollt. Seid versichert, dass meine Gemahlin und ich höchsten Respekt vor Euch und Eurer Arbeit haben.«
Aaron atmete tief durch. »Dann ist also alles gesagt. Ich danke Euch für Euer Entgegenkommen und wünsche Euch Gottes Segen. Schalom.«
Er verneigte sich vor dem Grafen und seiner Gemahlin und verließ mit Anna die gräflichen Gemächer und den Palas auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren.
Schweigsam gingen Aaron und Anna zum Haus des Medicus zurück. Aaron schritt mit seiner Fackel voraus, Anna trug den Ranzen und folgte ihm durch die unterirdischen Gänge. Die Fragen schossen ihr nur so durch den Kopf. Warum konnte der Graf nichts gegen die Pläne des Erzbischofs unternehmen? Wohin wollte Aaron mit seiner Schwester und der Magd Rebecca fliehen? Warum wollte Aaron nicht abwarten, ob sich die allgemeine Stimmung gegen die Juden nicht doch noch drehte, warum gab er seine sichere Existenz auf für eine ungewisse Zukunft? Er war bei Gott nicht mehr der Jüngste und würde irgendwo weit weg noch einmal ganz von vorne anfangen müssen. Womöglich in einem fremden Land mit einer fremden Sprache. Und sie? Wie sollte sie allein auch nur annähernd das gewaltige Arbeitspensum schultern, das Aaron Tag für Tag auf sich nahm? Wie sollte sie mit Gegnern fertig werden, wie der Kaplan es war? Oder gar der Erzbischof?
Sie war so aufgewühlt, dass sie nicht auf den Weg achtete und prompt über einen Stein stolperte, der sich von der Decke gelöst hatte. Sie fiel der Länge nach hin. Aaron hielt an und drehte sich zu ihr um.
»Alles in Ordnung?«, fragte er besorgt.
»Nein. Nichts ist in Ordnung. Gar nichts!«, rief sie. Ihr war zum Heulen zumute. »Aber geht nur zu, ich folge Euch, mir bleibt ja nichts anderes übrig«, setzte sie grimmig hinzu, stand wieder auf, hob die Fackel vom Boden und stapfte wütend weiter hinter ihm her, obwohl sie sich beim Sturz ihr Knie heftig angeschlagen hatte. Dass es weh tat, hätte sie in diesem Moment niemals zugegeben. Dazu war sie zu stolz.
Erst viel später, als sie in ihrem Bett lag und nur der flackernde Schein einer Kerze ihre Kammer erleuchtete, kam sie allmählich zur Ruhe.
Wieder steht meine ganze Zukunft in den Sternen, dachte sie. Nein, ganz so schlimm war es nicht. Der Medicus hatte alles in seiner Macht Stehende getan, ihr die Hindernisse aus dem Weg zu räumen und ihr zu einer Existenz zu verhelfen, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können. Sie stand unter
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