Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
drehte sich ab und zu um, um zu sehen, ob Aaron den Anschluss auch nicht verlor. Zielsicher fand sie den richtigen Weg zum Fundament des Bergfrieds mit der Treppe nach oben. Nur ein- oder zweimal war sie unsicher gewesen, ob sie den richtigen Gang gewählt hatte. Aber die Rußmarkierungen, die sie angebracht hatte, als sie nach der Niederkunft der Gräfin mit Chassim nach Hause zurückkehrte, erfüllten ihren Zweck und führten sie sicher weiter. Sie begannen den anstrengenden Aufstieg, bis sie schließlich oben im Bergfried ankamen, die Fackeln löschten, über die Brücke eilten und vorsichtig in den Gang hinausspähten, der zu den gräflichen Gemächern führte.
Wandfackeln wiesen ihnen den Weg, es war kein Mensch zu sehen, der Graf hatte dafür Sorge getragen, dass sich niemand, auch keine Kammerdiener, im obersten Stockwerk des Palas aufhielt. Sogar die Wache war abgezogen worden, nicht einmal die Amme saß auf ihrem Stuhl vor der Tür zum gräflichen Schlafgemach. Aus dem großen Empfangssaal im Erdgeschoss drang Musik und gelegentliches Lachen zu ihnen hinauf.
Anna klopfte an die Tür, doch es kam keine Antwort. Jetzt klopfte Aaron. Als wieder nichts zu hören war, betraten sie unsicher den Raum, der von Kerzenlicht erleuchtet war. Niemand war da. Aaron und Anna beschlossen, sich auf die Stühle zu setzen und abzuwarten.
Die Zeit verging, sie hörten die Glocke der Burgkapelle Mitternacht schlagen. Kurze Zeit später ging eine der vielen Türen im Raum auf, und der Graf kam mit seiner Gattin herein. Das hohe Paar war festlich gekleidet. Trotz des freudigen Anlasses, den sie mit ihren Gästen in der Empfangshalle gefeiert hatten, blickten sie nun ernst und begrüßten Aaron und Anna, die bei ihrem Eintreten aufgestanden waren, mit einem Kopfnicken, das die beiden mit einer Verbeugung beantworteten.
»Dank für Euren Besuch, Meister Aaron«, sagte der Graf. »Verzeiht unser Zuspätkommen, aber wie Ihr wisst, feiern wir heute die Taufe unseres Sohnes und haben Gäste. Wir mussten lange genug bleiben, um keinen Verdacht zu erregen. Bitte nehmt Platz.«
Dabei führte er Ottgild zum Bett.
Aaron sagte: »Verzeiht, Graf, sollte ich mich nicht zuerst um Eure Gattin kümmern? Sie wird müde sein und schlafen wollen.«
»Zerbrecht euch nicht den Kopf über mich«, meldete sich Ottgild vom Bett aus. »Ich möchte bei diesem Gespräch dabei sein. Es geht auch mich etwas an. Und jetzt bitte ich Euch, mir diese Fäden herauszuziehen. Sie fangen schon an zu zwicken und zu jucken.«
»Das ist ein gutes Zeichen, Gräfin«, antwortete Aaron, »dann ist der Heilungsprozess schon weit fortgeschritten. Erlaubt Ihr …?«
Er gab Anna einen Wink und öffnete den Ranzen, den Anna mitgebracht hatte. Anna schob vorsichtig Ottgilds Tunika und Unterkleid hoch bis unter die Brüste und entfernte den Leinenverband, während Aaron eine Schere und eine Pinzette aus dem Ranzen nestelte. Er nahm eine Kerze, untersuchte die vernähte Wunde sorgfältig und fragte: »Habt ihr noch Wundschmerzen?«
Ottgild schüttelte den Kopf.
Aaron tastete den gesamten Bauchraum ab. »Sagt mir, wenn es weh tut.«
Die Gräfin blieb stumm.
Aaron erhob sich schließlich und wandte sich an den Grafen. »Graf von Landskron, ich kann Euch mitteilen, dass Eure Gemahlin nach meinem Ermessen fast ganz genesen ist.«
Der Graf hatte während der Untersuchung durch den Medicus ein paar Kerzen ans Bett gebracht und sie mit einem Kienspan aus dem Kamin angezündet.
Aaron übergab Anna Schere und Pinzette. »Anna wird das Garn entfernen. Meine Augen sind inzwischen zu schwach, um bei Kerzenlicht noch scharf genug zu sehen. Es wird ein wenig zupfen, aber dann habt Ihr es endgültig überstanden.«
Anna ging sorgfältig und methodisch vor, schnitt und zerrte so sanft wie möglich und war vor allem penibel darauf bedacht, auch nicht den kleinsten Rest Nähgarn in der Narbe zurückzulassen, die sich inzwischen gebildet hatte. Aaron schaute ihr dabei über die Schulter und leuchtete ihr mit einer Kerze. Schließlich war Anna fertig und gab noch Salbe, die ihr Aaron reichte, auf das frische Narbengewebe.
Sie packte schon zusammen, da stellte der Graf zwei Stühle ans Bett und setzte sich dazu.
»Wir sollten jetzt miteinander reden«, meinte er.
»Ja, Graf, das sollten wir«, antwortete Aaron und nahm auf einem Stuhl Platz.
Anna nahm an, dass dies ein grundsätzliches Gespräch werden sollte, und wollte sich so unauffällig wie möglich entfernen. »Ich warte dann
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