Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
dem Schutz des Grafen von Landskron, er hatte sein Wort gegeben. Sie konnte nur hoffen, dass der Graf sich selbst durch seine Loyalität dem König gegenüber würde halten können, sonst wäre es um sie geschehen. Außerdem würde sie viele Patienten von Aaron verlieren, es gab sicher einige, die einer so jungen Frau nicht das Vertrauen entgegenbrachten, wie sie es dem Medicus gegenüber taten. Die Schwierigkeiten türmten sich bei jedem neuen Gedanken auf wie ein riesiger Berg, den sie nie würde bezwingen können.
Aber wie hatte der Medicus gesagt: »Medica zu sein – das ist deine Bestimmung.« Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie. Nicht einer unter tausend, oder besser: eine unter tausend bekam eine solche Gelegenheit. Sie musste nur zupacken. Das konnte sie. Und das würde sie. Schritt für Schritt.
Und Aaron? Er würde dann nicht mehr da sein. Dieser Umstand überschattete ihr Glücksgefühl. Ihm hatte sie alles zu verdanken. Ihm und Gott.
Vielleicht war es jetzt angebracht, dass sie ihren Schöpfer für ihre Zweifel und ihren Hader mit ihm um Verzeihung bat, Buße tat und bereute.
Zum ersten Mal seit langer Zeit fing sie an, zu beten und Zwiesprache mit Gott zu halten. Obwohl sie auch dieses Mal wieder das Gefühl hatte, dass das Gebet eine ziemlich einseitige Angelegenheit war, nicht nur, weil sie keine Antwort bekam, sondern weil sie im Gegensatz zu früher nicht gestärkt und gefestigt daraus hervorging. Trotzdem betete sie um Kraft für die kommenden Aufgaben und um Schutz für den Medicus und vergaß auch nicht, ihre Eltern in das Gebet mit einzuschließen. Das Gebet kam aus reinstem Herzen, und ihre Innigkeit war tief empfunden und echt. Kraft würde sie brauchen, übermenschliche Kraft. So wie damals, als sie beinahe ertrunken wäre. Oder dachte, sie hätte Lepra. Oder …
Auf einmal musste sie gähnen. Sie drehte sich um, zog die Beine an und war auch schon eingeschlafen.
Am nächsten Morgen saßen sie alle gemeinsam beim Frühstück, Aaron, Anna, Esther und Rebecca. Schweigsam bei Brot, Käse, Milch und Brei, bis Aaron das Schweigen brach.
»Sie weiß es«, sagte er lakonisch und unvermittelt.
Esther und Rebecca sahen überrascht von ihren Tellern auf.
»Seit heute Nacht.«
Esther und Rebecca warfen sich einen besorgten Blick zu, Anna aß ruhig weiter.
»Dann ist also beim Grafen alles so verlaufen, wie du es dir vorgestellt hast?«, fragte Esther ihren Bruder.
»Er hat alle Bedingungen anstandslos akzeptiert«, nickte Aaron.
»Hast du befürchtet, dass er nicht zu seinem Wort steht?«, fragte Esther.
Aaron zuckte schicksalsergeben mit den Schultern: »Man kann nie wissen. Wie viele von unseren Patienten haben ihre Rechnung nicht bezahlt?«
»Ich denke … jeder Fünfte ungefähr.«
Aaron machte eine Geste mit den Achseln, die wohl bedeuten sollte, dass er das mindestens erwartet hatte, und hob seinen Becher mit Milch hoch. »Dankbarkeit ist wie Milch – sie hält nicht lange.«
Er wandte sich an Anna. »Du musst hinter dem Lohn für deine Arbeit und deine Arzneimittel hinterher sein wie der Teufel hinter der guten Seele. Und ich sage ausdrücklich ›gute‹ Seele, nicht arme.«
Esther verdrehte die Augen, Aaron hob beschwichtigend die Hände. »Gott möge mir den Vergleich verzeihen, aber auch die Arbeit als Medica ist ein Geschäft. Wenn du nur halb so viel Patienten hast wie ich, wirst du ein gutes Auskommen haben. Besorge dir einen zuverlässigen Helfer und eine Hausmagd, auf die du dich verlassen kannst. Es ist nicht einfach, welche zu finden. Unterschätze das nicht. Ganz allein kannst du die Behandlungen nicht durchführen.«
Er lehnte sich zurück.
»Ist dir eigentlich schon aufgefallen, dass du nicht aufhören kannst, Anna zu belehren? Sie wird das schon hinbekommen, da bin ich sicher«, sagte Esther und tätschelte Annas Wange, wie ihre Mutter das früher, als sie noch ein Kind war, immer getan hatte.
Anna wunderte sich darüber, wie viel Vertrauen ihr in der kurzen Zeit entgegengebracht worden war. Sie legte ihren Löffel weg und stellte die Frage, die sie schon die ganze Zeit beschäftigte: »Wollt Ihr mir nicht verraten, wo Ihr hingehen werdet, oder ist das ein Geheimnis?«
Aaron putzte sich den Mund mit einem Tuch ab, bevor er antwortete. »Ich habe einen Vetter in einem fernen Land, in dem zwischen den Religionen die gleichen Rechte herrschen. Wir schreiben uns einmal im Jahr, es gibt hier in Oppenheim einen Handelsherrn, der sich
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