Das Geheimnis der Medica: Historischer Roman (German Edition)
Fingerspitzen vor der Brust aufeinander, bog die Finger durch und musterte sie gründlich von Kopf bis Fuß, aber mit einem Ausdruck, als wäre sie ein fremdartiges Insekt, das man insgeheim mit Abscheu betrachtete.
»Ihr seid noch sehr jung«, sagte er, weil Anna stumm blieb und nur ihre Kapuze, die sie aus alter Angewohnheit über den Kopf gezogen hatte, in den Nacken schob. Anna nickte nur. Der Kaplan sah ihr scharf ins Gesicht.
»Ihr habt zwei verschiedenfarbige Augen.«
»Eine Anomalie, nichts Besonderes«, entgegnete sie so gleichmütig wie möglich.
»Ach, ich finde schon, dass Ihr etwas Besonderes seid«, meinte der Kaplan süffisant. »Wenn man bedenkt, dass Ihr in so jungen Jahren Medica genannt werdet … wie alt seid Ihr, wenn ich fragen darf?«
»Zwanzig«, schwindelte Anna.
»Ist das nicht ein wenig zu jung für eine Medica? Eine Medica braucht eine lange Ausbildung und große Erfahrung. Ihr könnt mir doch nicht erzählen, dass Ihr die schon gesammelt habt, oder?«
Anna hatte nicht vor, sich aushorchen zu lassen. Aber einfach weglaufen wollte und konnte sie auch nicht. Die beste Verteidigung bestand wohl darin, selbst zum Angriff überzugehen. Deshalb fragte sie ihn: »Kennt Ihr den ersten Brief des Paulus an Timotheus? Timotheus 4, Vers 12?«
Damit hatte sie den Kaplan auf dem falschen Fuß erwischt. Und das freute sie, auch wenn sie sich das nicht anmerken ließ.
Er flüsterte, heiser vor unterdrückter Wut: »Wollt Ihr mich etwa über die Bibel belehren?«
»Nein«, sagte sie, »nichts liegt mir ferner. Aber in diesem Brief schreibt Paulus: ›Niemand hat ein Recht, auf dich herunterzusehen, weil du so jung bist.‹ Der Graf und seine Gattin sind jedenfalls zufrieden mit mir und meinen Kenntnissen.«
»Wollt Ihr mir nicht verraten, woher Ihr diese Kenntnisse habt?«
»Ich komme aus Nürnberg und bin dort bei einem Medicus groß geworden, der mit meinem jetzigen Medicus verwandt ist. Er hat mich in allem unterrichtet, was notwendig ist.«
Die Augen des Kaplans wurden schmal: »Ihr seid Jüdin?«
»Nein. Ich bin christlich getauft. Aber der Medicus hat mich in seinem Haus aufgenommen, weil meine Eltern früh gestorben sind.«
Der Kaplan nickte, obwohl er ihr nicht glaubte, das konnte sie ihm vom Gesicht ablesen.
»Ihr arbeitet für den jüdischen Medicus, der hier in Oppenheim praktiziert, nicht wahr?«
»Ja.«
»Es ist nicht üblich für ein Mädchen christlichen Glaubens, in einem jüdischen Haushalt zu leben.«
»Aber es ist auch nicht verboten.«
»Es gibt Städte im Reich, wo es verboten ist. Und es wird auch bei uns bald so weit sein, nehme ich an.«
»Medicus Aaron steht unter dem besonderen Schutz des Grafen. Und des Kaisers.«
»Wohl wahr, wohl wahr. Ich habe Euch noch nie bei mir im Gottesdienst gesehen. Dabei geht Ihr seit geraumer Zeit in der Burg ein und aus. Besucht Ihr nicht die heilige Messe?«
»Oh doch. Soweit es meine Pflichten zulassen. Aber ich gehe in Oppenheim in die Messe. In St. Sebastian.«
»Dann beichtet Ihr wohl auch dort.«
»Wünscht Ihr, dass ich bei Euch beichte?«
»Sucht Ihr Vergebung für eure Sünden? Ich kann Euch nur raten: Spielt nicht mit Eurer unsterblichen Seele! Wenn Euch eine Beichte erleichtert, stehe ich gern zu Diensten. Ihr seid jederzeit willkommen. Es ist meine Pflicht als Seelsorger, für jedes Kind Gottes da zu sein. Selbst wenn es noch so hoffärtig und widerspenstig ist.«
Vielleicht wollte er jetzt im Gegenzug Anna reizen, aber den Gefallen tat sie ihm nicht. Sie blieb kühl und gelassen.
»Habt Dank für Euer Angebot, Euer Gnaden. Vielleicht werde ich darauf zurückkommen. Aber jetzt verzeiht, Ihr habt Eure Pflichten und ich die meinen zu erfüllen, die Patienten warten.«
»Dann will ich Euch nicht länger aufhalten. Gott sei mit Euch, Jungfer Anna …«
Er lächelte, aber seine Augen blieben kalt. Anna nickte ihm zu und rauschte an ihm vorbei, den Ranzen über die Schulter geworfen. Sie wusste, dass er ihr nachschaute, deshalb zwang sie sich, ihre Schritte nicht zu beschleunigen, sondern hocherhobenen Hauptes zur Zugbrücke zu marschieren, um endlich aus seinem Blickfeld zu kommen.
XIX
S ie warteten, bis es dunkel wurde. Dann machten sich Aaron und Anna mit zwei Fackeln auf zum beschwerlichen Marsch durch den Geheimgang unter Oppenheim hindurch zur Burg. Aaron war schweigsam wie so oft in letzter Zeit. Dieses Mal ging Anna voraus, der Medicus folgte ihr.
Anna hatte ein zügiges Tempo eingeschlagen und
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