Das Geheimnis der Mondsänger
großen Kräfte und würden hin und her geschoben, ohne uns wehren zu können. Doch wenn dieser Glaube auch das Herz beruhigt und die Schuldgefühle nimmt, so ziemt er sich nicht für eine Sängerin, die eine harte Disziplin kennt. Und so schob ich ihn von mir.
Mein Herz weinte um das kleine Volk und Malec, obwohl ich wußte, daß es gut für ihn war, endlich auf dem Weißen Weg zu wandern. Er hatte nur ein altes Gewand abgestreift und ein neues angenommen.
Das gleiche galt für mein kleines Volk. Aber mit jenen, die Schmerzen hatten, litt und fieberte ich. Und für einen anderen mußte ich die Bürde tragen – für ihn, der aus dem Lager geflohen war, angetrieben von einer Macht, die ihm den Tod bringen würde. Ihn mußte ich unbedingt finden, denn ich stand tief in seiner Schuld.
Und, was noch schlimmer war, ich fürchtete, daß mein inneres Verlangen es gewesen war, das alles ausgelöst hatte. Wenn solche machtvollen Wünsche ausgestrahlt werden, beeinflussen sie das Handeln anderer. Hatte ich nicht unbewußt die Zukunft verdreht, um der Sehnsucht meines Herzens zu dienen? Ich wußte, daß ich ihm, der einst Krip Vorlund gewesen war, einen Ausweg anbieten konnte. Wenn er ihn annahm …
Ich redete besänftigend auf mein kleines Volk ein und sagte ihm, was getan werden mußte. Und ich sang über meinem Stab, obwohl es noch Tag war, denn ich konnte nicht bis zur Dunkelheit warten. Dann gab ich jenen, die seit so langer Zeit meine Gefährten waren, Nahrung und Trank. Ich setzte mich zu Simmle und erzählte ihr, wohin ich gehen mußte und weshalb. Die ersten Goldstrahlen des Sonnenuntergangs färbten den Himmel, als ich aufbrach.
Zu den Grenzen von Oskolds Land führte die Spur. Die Nacht kam und mit ihr der Mond, der Beschützer der Thassa. Ich sang, und ich wurde nicht müde, denn der blinkende Stab führte mir neue Energie zu.
Wenn man singt, denkt man nicht, und so ging ich voran, nur von der einen Notwendigkeit angetrieben: den Verlorenen wiederzufinden. Denn wenn Molaster mir nur eine kleine Gunst schenkte, kam vielleicht doch noch Gutes aus all dem Schmerz und all dem Übel. Ich ging schnell durch Mondlicht und Schatten, angeregt vom Gesang.
So kam ich im Dämmergrau in ein Tal, wo ich den Tod spürte. Ich sah die Leichen dreier Männer. Zwei hatte ich noch nie zuvor gesehen, doch der dritte war Osokun. Und als ich mich seiner primitiven Bahre näherte, sah ich jenen, dessen Not mich hierhergetrieben hatte.
Ich sandte meine Gedanken aus und fürchtete schon, der Stille des Todes zu begegnen. Aber nein! Noch flackerte Leben in ihm. Ich war noch rechtzeitig gekommen.
Aber es blieb mir nur eine winzige Spanne Zeit. Ich schob den Stab in den blutgetränkten Boden, dankte Molaster und untersuchte die Wunden, die so rot waren wie der Pelz.
Nur eine war von Bedeutung. Tief in der Schulter steckte der Gürteldolch Osokuns. Ich bekämpfte den Tod mit meinen beiden Händen, meinem Wissen und der Macht des Gesanges.
Im allgemeinen bekämpfen wir den Tod nicht bis zum letzten Atemzug. Wir Thassa gönnen jedem den Weißen Weg. Aber andere Rassen teilen das Große Gesetz nicht mit uns. Einigen bedeutet der Tod völliges Erlöschen, und sie sehen ihm mit Entsetzen entgegen. Ich weiß nicht, was Krip Vorlund vom Tod hielt. Aber er hatte ein Recht darauf, selbst seine Wahl zu treffen. So kümmerte ich mich um ihn, wie ich es für keinen meines Volkes getan hätte.
Wie lange die Flamme noch flackern würde, wußte ich nicht. In den frühen Morgenstunden sang ich wieder, diesmal laut und mit aller Macht, die mir zuströmte. Und unter meiner Hand verstärkte sich der Herzschlag. Schließlich nahm ich den steifen Körper auf. Er war leichter, als ich vermutet hatte, und ich spürte die Knochen unter der Haut. Jorth hatte lange nicht mehr ordentlich gegessen.
Zurück ging es durch das Bergland, und ich sang während des ganzen Weges, um das Leben am Glimmen zu erhalten. Als wir schließlich das Lager erreichten, scharten sich meine Kleinen freudig um mich und durchbrachen mit ihren Rufen meine Konzentration. Ich legte Jorth neben Simmle nieder. Sie lebte noch, was ich nicht für möglich gehalten hatte. Ich versorgte noch einmal ihre Wunde, und dabei sah ich, daß ihr Leben bald verlöschen mußte.
So nahm ich ihren Kopf zwischen meine Hände und stellte ihr die eine Frage. Lange Zeit saßen wir so da, und dann hatte sie sich entschieden. Das kleine Volk weinte, denn es gehört nicht zu den Thassa, und man braucht viel
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