Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
Fluchtweg, zur Tür zum Flur, die sich jeden Augenblick öffnen konnte.
Holly blieb standhaft. Es war immerhin ihr Haus, sie hatte ein Recht, hier zu sein. Warum nur kam sie sich in ihrem eigenen Heim wie eine Fremde vor? Sie konnte zwei Stimmen unterscheiden, eine männliche und eine weibliche. Sie sprachen leise und undeutlich, so dass Holly sie vor lauter Herzklopfen nicht verstehen konnte. Die Haustür öffnete sich mit dem vertrauten Quietschen.
In dem kurzen Moment der Erleichterung, dass ihr die drohende Begegnung erspart geblieben war, versuchte Holly sich Klarheit zu verschaffen. Was ging hier vor? Handelte es sich um eine Halluzination? Hatte der Aufprall mit dem Kopf Wahnvorstellungen erzeugt? War sie länger ohnmächtig gewesen, als sie dachte? Hatte sie vielleicht tagelang bewusstlos im Garten gelegen, während
sich Obdachlose in ihrem Haus eingenistet hatten? Dieser Möglichkeit, so unwahrscheinlich sie auch war, hätte sie lieber Glauben geschenkt, als ihren Geisteszustand infrage zu stellen.
Sie ging zur Küchentür hinüber und war im Begriff, einen Blick in den Flur zu werfen, als sich die Tür vor ihrer Nase öffnete. Holly wich erschrocken zurück, als eine Gestalt vor ihr auftauchte.
»Tom!«, schrie Holly. »Gott sei Dank bist du hier.«
Sie streckte beide Arme nach ihm aus, aber dann erstarrte sie. Der Mann vor ihren Augen sah aus wie Tom, wirkte jedoch vollkommen fremd. Die Haare waren kurz, so kurz wie noch nie, allerdings war das nicht das Schlimmste. Er sah ungepflegt aus, was Holly nicht weiter wunderte, nicht mal sein eingefallenes Gesicht erschreckte sie. Was ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ, war sein Blick. Seine schönen grünen Augen richteten sich auf sie – und sahen direkt durch sie hindurch. Sein Blick war leer und leblos, wie tot.
Tom wandte sich von Holly ab, ohne sie wahrzunehmen. Er griff nach einem Paar lederner Damenhandschuhe, die auf dem Küchentisch auf einem Laptop lagen. »Ich hab sie«, rief er laut, bevor er sich umdrehte und die Küche verließ.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel und Holly wieder allein war, wurde ihr schwindelig, und sie vergaß einen Moment zu atmen. Mit letzter Kraftanstrengung taumelte sie zur Tür, durch die Tom gerade verschwunden war, und schaffte es nur mit größter Mühe, sie einen Spaltbreit zu öffnen. Tom stand mit dem Rücken zu ihr an der Haustür,
wo Diane, bereits auf der Türschwelle, eine Hand auf seinen Arm gelegt hatte und mit ihm sprach. Im Wandspiegel war eine dritte Person zu sehen, die, wie Holly nur vermuten konnte, ihr Schwiegervater Jack war.
Holly konnte nur schwer dem verzweifelten Bedürfnis widerstehen, sich in Toms Arme zu werfen und ihn anzuflehen, alles wieder ins Lot zu bringen. Aber dann erinnerte sie sich, wie er durch sie hindurchgesehen hatte, und rührte sich, starr vor Angst, nicht vom Fleck.
»Du weißt, wo du uns finden kannst, wenn du Hilfe brauchst«, sagte Diane zu Tom.
»Ich weiß, Mum. Wir werden es schon schaffen.«
»Wir waren uns alle einig, dass du ab jetzt allein zurechtkommen musst, aber wenn du mich trotzdem brauchst …«
»Ich weiß«, beharrte Tom. »Ich weiß, wo du bist.«
»Jetzt lass den Jungen in Ruhe, Di«, sagte Jack. Er legte den Arm um Dianes Taille und versuchte, seine Frau loszueisen.
»Sie ist so klein und zart. Wenn du mal nicht weiterweißt – ich habe alles Notwendige auf dem Laptop notiert, der auf dem Tisch steht. Und du kannst mich Tag und Nacht anrufen. Melde dich, wenn du was brauchst.«
»Mach ich, aber wie du weißt, ist alles perfekt organisiert. Holly hat vor Libbys Geburt alles bis zur letzten Windel durchdacht. Als hätte sie gewusst, dass sie nicht mehr aus dem Krankenhaus nach Hause kommt.« Toms Stimme versagte vor Schmerz, es war eine Weile still, als er ein Schluchzen unterdrückte. »Ich kann ihr nicht die Mutter ersetzen, das ist klar, aber ich verspreche dir, dass
ich mich um unser Kind kümmere. Wir haben einen hohen Preis dafür bezahlt.«
»Arme Holly. Es ist ein Jammer. Sie wäre so eine gute Mutter geworden. Warum musste sie nur…« Diane konnte ihren Satz nicht beenden, sie weinte hemmungslos.
»Du kannst das Wort ruhig aussprechen, Mum. Ich denke Tag und Nacht daran«, sagte Tom. »Sie ist gestorben. Holly ist tot.«
Holly umklammerte die Klinke. Vor Schreck war ihr fast das Herz stehen geblieben, und sie fürchtete, ohnmächtig zu werden. Am liebsten wäre sie weggerannt, doch wie gelähmt starrte sie auf das
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