Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
Karriere
geträumt, genau wie Sie, und wollte meinen eigenen Weg gehen.«
»Was ist denn passiert?«
»Ich hatte keine besondere Begabung, auf die ich mich hätte berufen können, anders als Sie. Eine Heirat habe ich so lange wie möglich aufgeschoben, aber schließlich musste ich mich in die Tradition fügen. Ein eigener Beruf oder auch nur ein unabhängiges Leben kam für jemanden aus meinen Verhältnissen und meiner Generation nicht in Frage.«
»Sie wurden also Hausfrau? Hier in diesem Haus?«
»Ja. Anfangs hat es mir durchaus gefallen. Mein Sohn kam zur Welt, und mein Mann hatte eine anständige Arbeit. Er besaß eine Schreinerei.«
»Und das Nebengebäude war seine Werkstatt«, vermutete Holly. »Was ist dann schiefgelaufen? Entschuldigen Sie bitte, ist das zu persönlich?«
»Es ist eine lange Geschichte. Eine lange, lange Geschichte, mit der ich Sie jetzt nicht belästigen will. Sie haben mir schon mehr als genug von Ihrer Zeit geopfert.« Jocelyn leerte ihre Tasse.
Holly war ein wenig enttäuscht. Die Vergangenheit dieser Frau hatte ihre Neugierde geweckt. Um Genaueres zu erfahren, hätte sie auch den ganzen Rest des Tages geopfert.
Jocelyn stand auf, stellte Teller und Tassen aufs Tablett.
»Ich bitte Sie, das kann ich doch machen. Sie sind mein Gast«, protestierte Holly.
»Lassen Sie einer alten Frau ihren Willen«, sagte Jocelyn mit einem leisen Schmunzeln. »Ich mag niemandem eine
Last sein. Außerdem kann ich dabei einen Blick aus dem Fenster in den Garten werfen.«
»Ich kann Ihnen gerne das ganze Haus zeigen, wenn Sie wollen«, lachte Holly.
»Nein, das wäre wirklich zu viel verlangt, und ich muss mich jetzt dringend auf die Socken machen.«
»Es regnet aber noch«, gab Holly zu bedenken. »Wollen Sie wirklich schon gehen?«
»Ein wenig Regen schadet nicht. Ist außerdem gut für den Garten.« Als Jocelyn sich umdrehte und aus dem Fenster sah, sackte sie kaum merklich zusammen.
»Tom hat schon angefangen, das Unkraut und die alten Büsche rauszureißen. Offenbar hat schon lange keiner mehr Hand angelegt«, sagte Holly, die glaubte, sich für das Chaos entschuldigen zu müssen.
»Sie haben ja die Monduhr wieder aufgestellt.« Jocelyn starrte auf den steinernen Tisch.
»Monduhr? Meinen Sie die Sonnenuhr?«
Bevor Holly Gelegenheit hatte, Jocelyn weitere Fragen zu stellen, klingelte das Telefon. Es war Tom. Er war gut in seiner neuen Unterkunft in Belgien angekommen.
»Ich gehe jetzt«, bedeutete ihr Jocelyn mit den Lippen.
Holly schwankte zwischen Höflichkeit und dem Wunsch, mit Tom zu sprechen. Während Jocelyns Besuch hatte sie für einen Augenblick vergessen, wie sehr er ihr fehlte, aber jetzt war dieses Gefühl schlagartig wieder da. Holly legte Jocelyn eine Hand auf die Schulter. »Danke«, flüsterte sie.
Mit entschiedenen Gesten wurde Holly angewiesen, in der Küche zu bleiben, und Jocelyn verließ das Haus allein. »Ich habe gerade eine nette Bekanntschaft gemacht«, sagte
Holly zu Tom. »Sie hat den Tag einigermaßen erträglich gemacht.«
Vor dem Schlafengehen gönnte Holly sich ein großes Glas Wein und ein Schaumbad, eine Kombination, von der sie sich eine ruhige Nacht versprach. Tom übernachtete nicht zum ersten Mal woanders, aber so lange waren sie noch nie getrennt gewesen. Tom hatte versprochen, zur gegenseitigen Aufmunterung täglich anzurufen, morgens und abends, und so hockte Holly mit dem Glas in der Hand im Bett, umgeben von weichen Kissen, und ließ sich von Tom zärtliche Dinge ins Ohr flüstern.
Es half alles nichts, schließlich mussten sie sich Gute Nacht sagen, und Holly legte auf. Sie machte das Licht aus, doch ihre Gedanken ließen sich nicht so einfach abschalten. Ihre gut gemeinten Vorkehrungen für eine ruhige Nacht verhedderten sich im Gestrüpp ihrer Grübeleien. Die Trennung von Tom, das fremde Haus, das Dorf, der Auftrag, mit dem sie nicht zurande kam, alles ließ sie nicht zur Ruhe kommen, und sie wälzte sich bis weit nach Mitternacht von einer Seite auf die andere. Zu ihrer Überraschung waren es nicht so sehr Tom und seine Abwesenheit, die sie beschäftigten. Es war Jocelyn.
Holly hatte Jocelyn sofort ins Herz geschlossen. Als die alte Dame unangemeldet vor der Tür gestanden hatte, hätte Holly nicht im Traum daran gedacht, dass sie sich über den Besuch freuen würde. Nun aber musste sie zugeben, dass sie Jocelyn nur ungern hatte gehen lassen. Sie hätte am liebsten noch mehr über die ehemaligen Bewohner des Torhauses erfahren,
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