Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
Holly.
Als sie sich verabschiedeten und Holly das Telefon aus der Hand legte, hätte sie alles darum gegeben, wenn das Leben wieder so einfach wäre wie vorher. Sie wollte wieder glauben, dass der nächste Tag eine leere Seite war, die unbeschrieben vor ihnen lag. Denn solange sie noch nicht beschrieben war, konnte ihre Liebe eine ganze neue Welt gestalten und vor ihnen ausbreiten. Mit ein bisschen Glück würde der Vollmond beweisen, dass die Monduhr nichts weiter als ein Gartenschmuck war. Und noch wichtiger, er würde zeigen, dass ihre Zukunft einzig und allein in ihrem Fünfjahresplan stand, auf den die Monduhr keinen Zugriff hatte.
»Du siehst ganz verändert aus«, sagte Holly, als sie das Foto von Tom auf ihrem Handyscreen gesehen hatte. Im sicheren Schlafzimmer, geborgen in einem Berg von Kissen und fest in die Bettdecke eingewickelt, hatte Holly sich gegen die Angst vor dem Vollmond gewappnet, der langsam am nächtlichen Himmel aufging.
»Besser oder schlechter?« Der Nachhall von Toms Stimme klang nachts noch hohler und machte die Entfernung besonders deutlich.
»Einfach anders«, wiederholte Holly. Die Qualität des
Fotos war schlecht, Tom hatte es offenbar selber gemacht, mit ausgestrecktem Arm, im Hintergrund sah man die eintönige Ausstattung eines Hotelzimmers.
Ohne die vertrauten Locken wirkte sein Gesicht schmaler und kantiger. Holly konnte sich zwar undeutlich erinnern, wie Tom in ihrer Vision mit kurzen Haaren ausgesehen hatte, aber sein leerer Blick hatte sie abgelenkt. In der unbestreitbaren Realität und mit klarem Kopf konnte sie seine neue Frisur besser würdigen. Sie hatte nie bezweifelt, dass Tom mit akkuratem Haarschnitt und ebenso akkuratem Anzug genauso attraktiv aussehen würde wie vorher, trotzdem gab ihr sein Anblick mit den kurz geschorenen Haaren einen Stich. Sie hatte sich an sein nachlässiges Äußeres gewöhnt, das war ihr Tom, und er war ihr in mehr als einer Hinsicht abhandengekommen. »Ein bisschen gewöhnungsbedürftig«, meinte sie.
»Es gefällt dir nicht«, jammerte er. »Und dabei hast du mir immer in den Ohren gelegen, dass ich mir die Haare schneiden lassen soll.«
»Ich wollte nur, dass deine Haare einigermaßen anständig und gepflegt aussehen. Ab und zu musste ich dich auch zum Haarewaschen ins Badezimmer schleppen. Und ich gebe zu, dass ich dir einmal, aber nur ein einziges Mal, ein paar verfilzte Stellen im Schlaf abgeschnitten habe.«
»Ha, du hast mich skalpiert.«
»Du siehst richtig flott aus. Richtig weltmännisch. Die Zuschauer werden entzückt sein.«
»Du willst mir nur was Nettes sagen. Jetzt mal ehrlich.«
Holly beschwichtigte und beruhigte Tom, der, wie Samson, seine Männlichkeit durch den einfachen Akt eines
Haarschnitts bedroht sah. Als sie die Bettdecke fester um sich zog, streifte ihr Blick zufällig das Fenster. Alle Lampen im Schlafzimmer brannten, um dem Mondlicht keine Gelegenheit zu geben, ihren Seelenfrieden zu stören.
Holly hatte die Tage bis zum Vollmond gezählt, aber jetzt überlegte sie, ob sie sich nicht doch lieber auf ihren Verstand verlassen sollte, um die Vorstellung zu widerlegen, dass er eine geheimnisvolle Macht besaß. Musste sie wirklich die Probe aufs Exempel machen?
Während sie weiter mit Tom plauderte, kroch sie aus dem Bett und schlich zum Fenster. Sie zog die Vorhänge zurück und öffnete vorsichtig die Jalousie. Das rätselhafte Antlitz des Mondes strahlte sie an, und Holly gab sich seufzend geschlagen.
»Bist du müde? Soll ich Schluss machen?« Tom hatte ihr Seufzen für ein unterdrücktes Gähnen gehalten.
»Noch nicht«, flehte Holly in einem Anfall von ängstlicher Vorahnung, der sie zu ersticken drohte.
Aber sie konnte nicht erwarten, dass Tom sie die ganze Nacht unterhielt. Unter dem Vorwand, dass das Telefongespräch sie angenehm eingeschläfert hätte, verabschiedete sie sich endgültig, nicht ohne den bitteren Nachgeschmack eines schlechten Gewissens.
Als Holly das Telefon aus der Hand legte, fühlte sie sich plötzlich eingeschlossen, die Luft war zum Ersticken, und sie hatte nur noch das Bedürfnis, fluchtartig das Haus zu verlassen. Hastig griff sie im Vorbeigehen nach ihrer Jacke, schlüpfte in ihre Sportschuhe, holte den Holzkasten aus der Küche und stürzte nach draußen. Erst als sie den kalten Stein der Uhr berührte, wurde ihr bewusst, dass
das Haus sie nicht vertrieben, sondern die Monduhr sie angezogen hatte.
Die Sommernacht war schwül und feucht, weil es tagsüber
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