Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
sie hören konnte. Nichts deutete daraufhin, dass er sie gehört hatte, trotzdem antwortete er ihr.
»Ich bringe es einfach nicht fertig. Ich will nicht mal Staub wischen, weil ich mir vorstelle, dass überall Fingerabdrücke von dir sind, auf allem, was du in der Hand gehabt haben könntest. Ich will nicht, dass sie verschwinden, so wie du aus meinem Leben verschwunden bist.«
Holly würgte ihren Schmerz hinunter und wusste nicht, ob sie sich ihm in die Arme werfen oder lieber die Flucht ergreifen sollte. Aber sie tat weder das eine noch das andere, sondern blieb wie angewurzelt stehen, als er weitersprach.
»Ich hätte wirklich Schauspieler werden sollen. Alle glauben, dass es mir gut geht. Ich arbeite wieder, und solange ich unter Leuten bin, spiele ich den starken Max. Doch das bin ich nicht, Holly. Ganz und gar nicht. Du bist die Einzige, die weiß, wie es wirklich in mir aussieht. Oh Gott, Holly, wie gerne ich deinen Namen höre. Du glaubst nicht, was für Verrenkungen die Leute machen, um ihn nicht aussprechen zu müssen. Sie glauben wahrscheinlich,
ich würde einen Heulkrampf kriegen, wenn sie ihn erwähnen. Ich und heulen, wie käme ich dazu? Na ja, war nur ein Scherz.«
Tom lachte, aber es wirkte aufgesetzt. Holly war inzwischen vorsichtig näher gekommen, denn Tom hatte beim Sprechen einen Arm nach ihr ausgestreckt. Leise setzte sie sich neben ihn, legte ihm eine Hand auf die Schulter und kraulte ihn behutsam im Nacken. Seine Muskeln waren verspannt, und als sie versuchte, sie zu lockern, lehnte er sich ganz leicht dagegen und entspannte sich.
Er schloss die Augen. »Ich weine auch jetzt nicht.« Seine zitternden Lippen deuteten ein Lächeln an. »Du kennst das Gefühl, Holly, oder?« Das Lächeln verschwand, und die Verzweiflung kehrte zurück. »Ich will mich nicht gehen lassen. Ich kann mich nicht gehen lassen.« Er beugte sich vor, als wollte er sich ganz klein zusammenrollen, legte den Kopf an sein Glas und rollte es über die Stirn, wie um seine Gedanken abzukühlen. »Nein«, flüsterte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Nein!«, wiederholte er und schluchzte trotzig auf. »Keine Tränen.«
Holly zog ihn fest an sich, damit er spürte, dass sie bei ihm war. Er zitterte am ganzen Körper, die ersten Tränen traten über das Ufer und unterhöhlten den Damm, den er gegen seinen Kummer aufgerichtet hatte. Und dann brach sich die Tränenflut ungehemmt eine Bahn, Tränen, die auch Tom nicht aufhalten konnte.
Sein ganzer Körper wurde vom Schmerz geschüttelt, der nicht angetastete Whisky schwappte über. »Ich schaffe es nicht einmal, meinen Kummer im Alkohol zu ersäufen«,
schluchzte er und stellte das Glas neben der Flasche auf den Boden.
»Alles wird wieder gut, Tom.« Holly wiegte ihn beschwichtigend in ihren Armen, aber sie hatte selber einen Kloß im Hals. Die Tränen eines ganzen Lebens schnürten ihr fast die Kehle zu. Toms Schluchzer waren wie Hammerschläge an die Mauer ihrer eigenen Gefühle. »Lass deinem Kummer freien Lauf, verdräng ihn nicht«, ermunterte sie Tom mit Ratschlägen, die sie selber nicht befolgte.
»Ich liebe dich, Holly«, stammelte Tom. »Ich hätte dir noch viel öfter sagen sollen, wie sehr ich dich liebe. Ich wollte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und dir noch einmal sagen, wie sehr ich dich liebe, nur ein einziges Mal. Meine Liebe hört nicht auf. Sie wird nie aufhören.«
Als sein Schluchzen allmählich verebbte und alle Tränen vergossen waren, hallte das Ticken einer Uhr durch den Raum. Holly wiegte Tom weiter leise in den Armen, als wäre er das Baby, das sie nicht hatte im Arm halten dürfen. Auf ihrer Brust lag ein zentnerschwerer Stein, sie fühlte sich vollkommen ausgelaugt. Dann durchschnitt ein anderes Geräusch die Luft, das Tom zusammenfahren ließ. Libby schrie. Das Schluchzen ihres Vaters hatte sie geweckt.
Libbys Weinen versetzte Holly einen schrecklichen Stich, aber die Monduhr zog sie wieder in die Gegenwart zurück. Das Weinen ihres Kindes verschwand in der Ferne, bis nur noch das leise Wispern des Windes in der Sommernacht zu hören war.
SECHS
H olly war erstaunt, wie tadellos sie in den Tagen nach dem Vollmond funktionierte. Das Gefühlschaos, in das ihre jüngste Vision sie gestürzt hatte, bewirkte eine Art Schockstarre. Sie konnte sich ihre aberwitzige und ganz und gar unmögliche Reise in die Zukunft nicht einmal ansatzweise erklären, so dass sie nicht einmal den Versuch dazu unternahm. Die Telefonate mit Tom waren so
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