Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
sind grausam, das lässt sich nicht beschönigen.
Aber vergiss nicht, dass die Monduhr die Möglichkeit offen lässt, dein Leben zu retten. Behalte das bitte immer im Blick. Und versuche, es als Geschenk zu betrachten.« Jocelyns gedämpfte Stimme hätte einem Totengräber alle Ehre gemacht.
»Ein Geschenk? Wie kannst du das Grauen, das auf mich wartet, ein Geschenk nennen?«, fuhr Holly sie verärgert an.
»Wenn es dich rettet – und ich weiß, dass es das wird –, dann ist es sehr wohl ein Geschenk. Komm, wir lesen die letzte Strophe.«
Auf dem letzten Pfad lag eine dicke Moosdecke, doch als Holly das grüne Leichentuch weggeschabt hatte, stockte ihr das Herz.
Willst du dem Tod entgehen
Rechnet die Monduhr auf
Ein Leben für ein Leben
Das ist der Preis beim Tausch
»Ein Leben für ein Leben«, wiederholte Holly. »Was ist mit aufrechnen gemeint?«
Jocelyn antwortete nicht. Sie sah Holly unverwandt an und wartete, bis sie selbst darauf kam.
»Mein Leben für Libbys? Ich soll das Leben meines Kindes opfern, um mein eigenes zu retten? Bitte, Jocelyn, sag, dass ich mich irre.«
Jocelyns fortgesetztes Schweigen war die Antwort, die Holly nicht hören wollte. Wie betäubt sank sie auf die Knie. »Jocelyn, ich kann nicht mehr, ich kann einfach
nicht mehr«, rief sie entsetzt. Und dann tat sie etwas, was sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gemacht hatte. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, und innerhalb kürzester Zeit brach sich der ganz aufgestaute Kummer Bahn, und sie schluchzte hemmungslos.
Jocelyn wählte einen Platz für das Picknick im Rosengarten, von wo aus man den Kreis für die Monduhr nicht sehen konnte. Das Essen rührte Holly nicht an, aber Jocelyn bestand darauf, dass sie ein paar Schlucke Tee trank, der süß und heiß war wie immer.
Trotz ihrer Bestürzung verspürte Holly seltsamerweise weiterhin den Wunsch, mehr über die Monduhr zu erfahren. Sie musste unbedingt verstehen, wie die Monduhr früher funktioniert hatte. Bevor sie Libby völlig aufgab, wollte sie sicher sein, dass es keinen anderen Ausweg gab. »Wie war das bei dir, Jocelyn? Du hast erzählt, dass du fast Selbstmord begangen hättest? Aber was haben die Regeln der Monduhr damit zu tun?«
Jocelyn schwenkte den Tee in ihrer Tasse, als würde sich auf diese Weise ein Weg in die Vergangenheit öffnen. »Ich fange besser noch mal ganz von vorne an. Einverstanden?« Jocelyn standen bereits Tränen in den Augen.
»Lass dir Zeit. Ich warte.« Holly beugte sich vor und streichelte der alten Dame die Hand.
»Als Mr Andrews mich das erste Mal im Torhaus besuchte, war von einer Zeitreise nicht die Rede. Er händigte mir einfach den Holzkasten und die Aufzeichnungen aus, allerdings nur ungern, wie ich dazusagen muss. Ich glaube, er war unschlüssig, ob er das Geheimnis der Monduhr
mit den Hardmontons begraben oder die Entscheidung dem neuen Eigentümer überlassen sollte. Er legte mir nur ans Herz, die Aufzeichnungen vorher zu lesen und die Monduhr nicht wieder aufzustellen, bevor ich mir über die Konsequenzen im Klaren wäre. Als er nach ein paar Monaten wieder bei mir erschien, hatte ich nicht nur die Aufzeichnungen gelesen, sondern die Wirkung der Monduhr am eigenen Leib zu spüren bekommen.«
»Die Monduhr hat dich in die Zeit nach deinem Selbstmord versetzt.«
Jocelyn nickte. »Ich hatte vermutlich den gleichen Alptraum wie du und zweifelte an meinem Verstand. Die Aufzeichnungen bestätigten alle meine Erlebnisse, aber ich redete mir ein, dass es sich nur um eine Sinnestäuschung handelte. Als Mr Andrews merkte, dass ich meine Zukunft gesehen hatte, machte er mir klar, dass meine Vision Wirklichkeit werden könnte. Wir machten genau denselben Spaziergang zum Herrenhaus und zu dem Steinkreis, wo er mir das Gedicht erklärte, genau wie ich dir.«
»Der Regentropfen auf der Fensterscheibe«, nickte Holly.
»Als ich verstanden hatte, was die Regel Ein Leben für ein Leben bedeutet, dass nämlich ein anderer Mensch an meiner Stelle sterben muss, habe ich mich in mein Schicksal gefügt und die nächsten zwei Jahre stillgehalten.« Mit einem Schulterzucken ersparte sich Jocelyn jede weitere Erklärung.
»Doch dann hast du die Uhr noch einmal befragt und gesehen, was Harry Paul antun würde. Und dich deshalb für einen anderen Weg entschieden. Aber wieso Leben für
Leben ?« Doch Holly wusste die Antwort schon, bevor sie die Frage ausgesprochen hatte. »Ja, sicher. Es war Harry. Harry hat sich selber das Leben genommen. Deshalb
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