Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
fühlst dich dafür verantwortlich, richtig?«
»Das ist nur die halbe Wahrheit«, gestand Jocelyn. »Wenn man den eigenen Tod verhindern will, kann man sich nicht auswählen, wer stattdessen stirbt. Es trifft immer jemanden aus der Familie, nicht unbedingt einen Blutsverwandten, aber jemanden aus dem Familienkreis. Man kann nicht einfach losziehen und wahllos einen Fremden auswählen in der Hoffnung, so die Rechnung zu begleichen.«
»Du nennst die Gesetze der Monduhr grausam, aber Jocelyn, grausam ist ja gar kein Wort dafür.«
Beide Frauen blickten nachdenklich in die Richtung, wo die Monduhr einmal gestanden hatte, und wagten nicht, sich in die Augen zu sehen.
Der Vormittag war lautlos in den Nachmittag übergegangen, die späte Septembersonne kämpfte sich mühsam durch die Wolken, die sich zusammenbrauten, und machte die Luft lau und milde. Holly fröstelte trotzdem.
»Ich konnte dem Tod nicht entkommen, ohne jemanden in der Familie zu gefährden. Die Monduhr forderte ein Leben, und ich hatte wahnsinnige Angst, dass ich Pauls Leben aufs Spiel setzte. Deshalb unternahm ich zwei Jahre lang nichts, bis ich erkannte, was Paul bevorstand, wenn ich nicht handelte und in die Zukunft eingriff.«
»Sag bloß, du hast Harry umgebracht.« Holly schnappte nach Luft, halb im Scherz, aber durchaus darauf gefasst, dass in diesen Ruinen noch mehr unangenehme Überraschungen auf sie warteten.
Jocelyn lächelte, doch zwischen den Fältchen um ihre Augen bahnte sich eine Träne ihren Weg. »So gut wie«, gestand sie. »Als ich sah, was er Paul antun würde, wurde ich so wütend, wie es wahrscheinlich nur eine Mutter nachfühlen kann. Ich hatte mich nie gegen Harrys Misshandlungen gewehrt, meine Unterwürfigkeit kannte keine Grenzen. Aber als ich sah, wie Harry seine Demütigungen auf Paul übertrug und ihn vernichten wollte, wie er mich vernichtet hatte, da war ich außer mir vor Zorn und hätte ihn zur Not auch umgebracht.«
Holly gab sich alle Mühe, sich auf Jocelyns Erzählung zu konzentrieren. Sie wollte um keinen Preis daran denken, was diese Geschichte für ihre eigene Entscheidung bedeutete, aber sie konnte nicht verhindern, dass die alten Zweifel an ihrer Eignung als Mutter wieder auftauchten. Sie dachte, sie wüsste inzwischen, wie es sich anfühlt, Mutter zu sein, aber die mörderische Wut, von der Jocelyn gesprochen hatte, konnte sie nicht im Mindesten nachempfinden.
Die Erinnerungen an früher ließen Jocelyn schaudern. Doch Holly musste unbedingt noch mehr erfahren. »Wenn du ihn nicht umgebracht hast, wie konntest du dann sicher sein, dass es Harry treffen würde? Dass er mit dem Leben bezahlen müsste?«, fragte sie leise.
»Ich fing an, mich zu wehren«, flüsterte Jocelyn, als ob sie die Geister, die sie gerufen hatte, nicht wecken wollte. »Harry hat, ohne es zu wollen, sich sein eigenes Grab geschaufelt. Er war keinerlei Widerstand gewöhnt und geriet völlig außer sich, als ich mich gegen ihn auflehnte. Er wurde immer gemeiner und brutaler – und schlug mich immer öfter.«
»Oh Jocelyn, ich wusste ja nicht, dass du so gelitten hast.« Holly war zutiefst erschrocken, was Jocelyn durchgemacht hatte.
»Der Spruch ›Was dich nicht umbringt, macht dich stark‹ trifft mit Sicherheit auf mich zu. Ich hätte mich natürlich am liebsten vor Scham verkrochen, wenn ich nicht irgendwann erkannt hätte, dass ich die Menschen um uns herum auf mein Schicksal aufmerksam machen musste. Harrys Geschäfte liefen immer schlechter, weil die Leute nichts mehr mit ihm zu tun haben wollten. Die Dorfbewohner wurden meine heimlichen Verbündeten, und meine Schwester sorgte schließlich dafür, dass keiner mehr ein Wort mit ihm redete. Er war kurz davor durchzudrehen, und ich fragte mich schon, ob ich nicht zu weit gegangen wäre, ob ich nicht trotzdem sterben würde, und zwar durch Harrys Hand. Nur weil ein lieber Freund, mein Retter in der Not, beherzt eingeschritten ist, hat sich die Sache zu meinen Gunsten gewendet und meiner Zukunft die entscheidende Wendung gegeben.«
»Und wer war dieser Retter in der Not?«
»Du kennst ihn bereits«, tat Jocelyn geheimnisvoll. »Er geht immer noch im Torhaus ein und aus.«
»Billy?« Holly war sprachlos.
Jocelyn nickte. »Damals war er ein junger Mann in den besten Jahren. Er kam zu uns in Torhaus, um von Harry Geld einzutreiben, das er ihm schuldete. Es war mitten am Tag, Paul war in der Schule, so dass Harry die Zeit nutzte, in der wir allein waren, um mich windelweich
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