Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
Vollmond funktioniert, hatte ich schon selber herausgefunden. Einmal hatte ich versucht, die Monduhr vor dem Vollmond in Gang zu setzen, aber die Kugel hatte nur geflackert.«
»Sehen wir uns mal den nächsten Vers an«, schlug Jocelyn vor.
Der zweite Pfad war nicht von Moos bedeckt, so dass Holly den Text relativ leicht entziffern konnte.
Ein Uhrwerk wundersamer Art
Weist dem Licht des Mondes den Pfad
Und es wirft seinen Schatten
Auf einem ungeborenen Tag
Der Ausdruck Uhrwerk ließ Holly aufhorchen und machte sie nachdenklich. »Das Mondlicht, das von der Kugel reflektiert wurde, sah aus wie die Zeiger einer Uhr, die im Kreis rasen, und ich konnte ein Ticken hören. Aber wie funktioniert dieses Uhrwerk denn? Woher weiß die Monduhr, wieweit sie die Reflexion in die Zukunft werfen soll?«
»Ich glaube, das wird für immer ein Rätsel bleiben. In dem Tagebuch von Lord Hardmonton kann man nachlesen, wie der Mechanismus konstruiert ist. Das Uhrwerk hat wohl nur die Aufgabe, den Ablauf der Stunde zu messen, sie bestimmt nicht, bis wohin die Reflexion reicht. Das macht allein die Monduhr. Wie, weiß ich ehrlich gesagt auch nicht, aber es scheint, dass sie einen entscheidenden Punkt im Leben des Zeitreisenden wählt.«
»Oder seinen Tod«, ergänzte Holly finster. »Hast du das Tagebuch dabei?«
»Keine Sorge. Es liegt im Korb. Nach dem Picknick kannst du es haben. Ich will es endlich los sein.«
»Wie ist es eigentlich in deine Hände geraten?«
»Mr Andrews war früher der Gärtner des Herrenhauses. Kurz nachdem Harry die Monduhr erworben hatte, hat er mich aufgesucht. Er selbst hat die Monduhr nie benutzt, aber er war ein Vertrauter von Edward Hardmonton. Den Rest erzähle ich dir nachher, ich glaube, du
solltest erst noch das ganze Gedicht lesen. Auf zur nächsten Strophe«, befahl Jocelyn.
Auch dieser Pfad lag fast frei, nur ein paar Bodendecker überwucherten die Ränder, ließen die Schrift aber noch erkennen.
Wie die Hand auf dem Wasser
Die ohne Abdruck bleibt
Wie der Regentropfen am Fenster
Ist die Wegwahl nicht frei
Holly starrte verständnislos auf die Worte. Sie schauderte, als sie an ihre Fußabdrücke im Schnee und den Staub auf dem Kaminsims in ihrer letzten Vision dachte, und begriff, dass der erste Teil der Strophe exakt mit ihren Erfahrungen übereinstimmte. Sie hatte die Zukunft betreten, jedoch keine Spuren hinterlassen, alle Abdrücke waren verschwunden, eine Hand auf dem Wasser, wie es im Gedicht hieß. Mit den beiden letzten Zeilen konnte sie nichts anfangen, oder wollte es einfach nicht.
»Ist die Wegwahl nicht frei? Was soll das heißen? Heißt das nur, dass ich keine Wahl habe, oder noch etwas anderes? Hast du nicht gesagt, man müsste teuer dafür bezahlen, wenn man den vorgezeichneten Weg ändern will?«
»Beides ist richtig, denke ich. Am besten lässt es sich erklären, wenn du dir Regentropfen vorstellst, die am Fenster herunterrinnen, wie in dem Gedicht.«
Holly bezweifelte, dass ihr die Vorstellung einer Glasscheibe weiterhelfen würde, aber sie gehorchte und ließ
sich von Jocelyn durch das Bild, das sich vor ihrem inneren Auge entfaltete, führen.
»Hast du schon einmal den Weg eines einzelnen Regentropfens die Scheibe hinunter verfolgt?«
Holly nickte schweigend. Oft genug hatte sie als Kind stundenlang aus dem Fenster ihres Zimmers gestarrt und die Regentropfen wie Tränen über die Scheibe rinnen sehen.
»Wenn er auf das Fenster fällt«, fuhr Jocelyn fort, »denkt man, dass er seinen Weg frei wählt. Aber irgendwann kreuzt er den Weg eines anderen Tropfens, einen Weg, den man überhaupt nicht sieht, nicht die kleinste Spur, und doch ändert unser Tropfen plötzlich seine Richtung. Er folgt seinem Vorgänger, geht nicht mehr seinen eigenen Weg, sondern einen vorgezeichneten.«
Holly hatte unbewusst die Augen geschlossen, als sie im Geiste einen Regentropfen an ihrem alten Kinderzimmerfenster verfolgte. Als sie die Augen wieder aufmachte, sah Jocelyn sie bekümmert an.
»Das Leben strebt offenbar immer nach einem gewissen Gleichgewicht, und auch wenn man meint, einen anderen Weg zu gehen, gelangt man letztlich doch an denselben Punkt.«
»Oh Gott«, seufzte Holly. »Das heißt also, dass alle medizinische Vorsorge umsonst wäre und ich bei der Geburt sterbe, wenn ich mit Libby schwanger werde. Ist es das, was du mir sagen willst?«
»Es tut mit leid, Holly, ich wollte, es wäre anders und die letzte Strophe würde dir Hoffnung machen. Die Gesetze der Monduhr
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