Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
Jocelyn das Tagebuch fast aus der Hand. »Damit habe ich ausreichend Lesestoff, außerdem mangelt es mir auch sonst nicht an Beschäftigung. Der Marmor für Mrs Bronsons Skulptur wird nächste Woche endlich geliefert, und Billy hat versprochen, noch mal vorbeizukommen, um dem Wintergarten den letzten Schliff zu verpassen. Du hast ja auch alle Hände voll zu tun.«
»Ja, im Herbst sind alle im Dorf schwer beschäftigt, aber die kommen bestens ohne mich aus, das kannst du mir glauben.« Jocelyn machte immer noch keine Anstalten, die Teestube zu betreten.
»Jocelyn, muss ich dich etwa eigenhändig in deine Wohnung hochschleppen?«, meinte Holly scherzhaft. Sie hatte diese Frau von Herzen gern, und sie war die Einzige, mit der sie über die Monduhr sprechen konnte, aber Holly hatte nun das dringende Bedürfnis, allein zu sein.
Als Holly nach Hause kam, wirkte das Torhaus öde und leer. Sie hatte eine vage Vorstellung davon bekommen, was es hieß, Mutter zu sein, sie hatte das Kind gesehen, das sie mit Tom bekommen würde, und sich eingebildet, alles haben zu können. Sie hatte angenommen, dass die Monduhr sie in ihrer unerforschlichen Güte auf die kommende Gefahr hingewiesen hatte, damit sie ihr ausweichen konnte, damit sie überlebte, damit sie alle drei eine Chance hatten.
Sie legte das Tagebuch vor sich auf den Küchentisch. Der Einband war aus braunem Leder, auf seiner Vorderseite waren oben links die Initialen E. H. eingeprägt. Ein
ledernes Band hielt die losen Papierfetzen fest, die zwischen den zerfledderten Seiten steckten.
Holly überlegte, ob sie die Aufzeichnungen nicht lieber ungelesen beiseitelegen sollte, nachdem Jocelyn angedeutet hatte, wie erschütternd sie waren, denn ihr Bedarf an erschütternden Geschichten war für heute eigentlich gedeckt. Aber das Tagebuch zog sie magisch an, und sie wusste, dass sie erst Ruhe geben würde, wenn sie bis zum bitteren Ende durchgehalten hatte.
ACHT
E dward Hardmonton war schon als kleines Kind von der Monduhr fasziniert gewesen. Für die übrige Familie war sie nichts weiter als eine Kuriosität in den Gärten von Hardmonton Hall, die seit fast einem Jahrhundert ein mehr oder weniger vergessenes Dasein fristete. Aber der kleine Edward fühlte sich von dem steinernen Kreis magisch angezogen und verbrachte endlose Sommertage beim Spiel in der Nähe der Monduhr, die majestätisch in der Sonne funkelte. Er kannte jeden Zentimeter der gravierten Platte, jedes Wort der umlaufenden Inschrift, ohne den Mechanismus blieben die Geheimnisse der Monduhr für ihn indes stumm.
Als Edward Hardmonton Hall verließ und ein Studium aufnahm, war er so gespannt auf alles Neue, dass er keinen Gedanken mehr an die Vergangenheit verschwendete und die Monduhr bald vergessen hatte. Nach dem Abschluss seines Landwirtschaftsstudiums bereiste er die Welt, um sich über seine weitere Zukunft klar zu werden, wie es in seinen Kreisen in den sechziger Jahren üblich war. Er wusste, dass er zu den Privilegierten gehörte, nicht nur weil er die finanziellen Mittel hatte, in der Welt herumzugondeln, sondern weil sein Vater seine Reiselust voll und ganz billigte. Beide wussten, dass Edward, als einziges
Kind, eines Tages das Erbe seines Vaters antreten und die Bewirtschaftung der Ländereien übernehmen würde. Edward hatte durchaus nichts dagegen, aber bis dahin wollte er mit dem Segen seines Vaters das Leben in vollen Zügen genießen.
Edwards Selbstsuche fand ein plötzliches Ende, als sein Vater überraschend an einem Herzinfarkt verstarb. Edward war damals in Italien unterwegs, die Nachricht war niederschmetternd. Er bedauerte zutiefst, seinen Vater nicht mehr gesehen zu haben, und es war keine Frage, dass er umgehend nach Hardmonton Hall zurückkehrte, doch es fiel ihm schwerer, als er gedacht hatte. Er hatte eine junge Frau kennengelernt. Sie stammte aus einem kleinen italienischen Dorf, eine Schönheit mit olivfarbener Haut und schwarzbraunen Augen, Edward war hingerissen. Er kannte sie erst seit ein paar Wochen, aber er wusste bereits, dass Isabella die Richtige war. Die Vorstellung, sie zu verlieren, brach ihm das Herz, weshalb er allen Mut zusammennahm und am Abend vor seiner Abreise nach England um ihre Hand anhielt. Sie blieben für immer zusammen.
Es dauerte fünf Jahre, bis eine Wendung des Schicksals sein Interesse an der Monduhr wieder weckte. Edward und Isabella hatten einen zweijährigen Sohn, so dass die Zukunft der Familie gesichert war und Edward sich der
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