Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
ist. Wie ein Regentropfen, der eine Fensterscheibe hinunterläuft, hinterlässt die Zukunft, in die wir blicken, eine Spur. Und auf sie führt uns unser Schicksal unausweichlich wieder zurück. Charles hatte gehofft, dass das Geheimnis der Monduhr mit ihm begraben wird, und mein sehnlichster Wunsch ist es, dass sie jetzt mit mir untergeht.
Ich verfluche den Tag, an dem ich sie wieder aufgestellt habe, aber ich hoffe, dass mein Leid nicht sinnlos war, mein Sohn Lucas wird es bezeugen.
Mein einziger Trost ist, dass ich mein Unglück nicht mehr allein tragen muss, eine egoistische Tat, aber ein notwendiges Übel. Isabella ist völlig verstört, und es bricht mir das Herz, wenn ich sie so leiden sehe, doch die Zeit drängt. Ich musste sie auf das Kommende vorbereiten,
außerdem brauchte ich ihre Hilfe, um alles zum Wohl unseres kleinen Lucas zu regeln.
Es war vorauszusehen, dass Isabella sich als die Stärkere von uns beiden erweist. Als sie alles wusste und, wie ich, der Überzeugung war, dass unser Schicksal besiegelt ist, ist sie nicht in Trauer versunken. Sie tut alles, was für Lucas’ Wohlergehen nötig ist, wodurch sie meine Schuld und meine Ängste ein wenig mildert. Ich bin ein glücklicher Mann, ich habe erfahren, was Liebe ist. Und so erwarte ich getrost den morgigen Tag, in den Armen der Frau, für die ich, ohne zu zögern, mein Leben gegeben hätte, wenn es nicht schon unserem geliebten Lucas versprochen worden wäre.
Holly klappte das Tagebuch vorsichtig zu, beinahe ehrfürchtig, und wickelte das Lederband wieder um die zerfledderten Seiten. Sie fühlte sich vollkommen ausgelaugt. Edward Hardmontons Geschichte hatte ihr die letzte Kraft, die letzte Hoffnung geraubt. Mehr als zwei Stunden hatte sie am Küchentisch verbracht, und beim Aufstehen protestierte ihr verkrampfter Körper heftig. Der Schmerz war fast wie eine Erlösung von der Betäubung, die sich über ihren Körper und ihre Seele gelegt hatte.
Wie in Trance verließ Holly die Küche, aber plötzlich verspürte sie etwas Neues. Wut stieg in ihr auf. Als sie das Wohnzimmer betrat, sah sie statt der leeren Stelle auf dem Fußboden Libby auf ihrer Wickelunterlage mit den Beinen strampeln. Statt des leeren Sofas sah sie Tom seine Tochter füttern. Überall verfolgte sie das Bild ihres ungeborenen Kindes, und sie machte ihrem Ärger lautstark Luft.
»Bin ich denn wahnsinnig«, schrie sie. »Ich kann doch nicht Libby sterben lassen, um mich zu retten!«
Holly ließ ihren Blick durchs Zimmer irren, als könnte sie dort eine Antwort finden. Er blieb an der Porzellankatze hängen, die sie vom Regal aus angrinste. Die Katze würde es auch in ein paar Jahren noch geben, Holly aber nicht. Und Libby auch nicht. Und die ganze Zeit hörte die Katze nicht auf zu grinsen.
»Wenn Libby nicht hier sein kann, warum dann du?«, fauchte Holly sie an. In ihrer Wut packte sie die einfältig grinsende Katze und schleuderte sie an die Wand, wo sich klirrend der Kopf vom Körper löste und hinter dem Sofa verschwand.
Holly stand mitten im Zimmer und atmete tief durch. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, ständig auf der Suche nach Erklärungen und Zusammenhängen, doch sie kamen immer wieder auf einen Punkt zurück. Es war eine Zeile des Gedichtes, die Holly laut wiederholte. Ein Leben für ein Leben, das ist der Preis beim Tausch. Wenn sie nicht selber ums Leben kann, dann jemand anderes, jemand, der ihr nahestand, den sie liebte. Sie schloss die Augen, während die Worte in ihrem Kopf nachhallten. Ihr Leben für Libbys Leben, es gab keine andere Wahl.
Hollys Wut war schließlich verraucht, und jetzt konnte sie nur noch ein Mensch retten.
»Hallo. Bist du gerade beschäftigt?«, fragte Holly.
»Nein, ich muss nur ein paar Unterlagen sortieren. Was ist los, Hol?« Tom klang besorgt. Bei Holly war es früher Abend, aber in Haiti war es Mittagszeit, und Tom hatte nicht damit gerechnet, dass Holly so früh anrief.
Dabei hatte Holly den Anruf so lange wie möglich hinausgezögert, doch als sie am Küchentisch saß und die Sonne untergehen sah, schwanden mit dem Licht nicht nur ihre eigenen Hoffnungen und Träume, sondern auch die von Tom, wenn er davon gewusst hätte.
»Nichts, ich wollte dich nur überraschen«, log sie. »Wenn du keine Zeit hast, sag’s ruhig, ich kann später noch mal anrufen. Ich wollte nur deine Stimme hören, und das hab ich jetzt. Ich musste nur wissen, dass es dir gut geht.«
»Nein, leg nicht auf. Ich kann eine kleine Ablenkung
Weitere Kostenlose Bücher