Das Geheimnis der Monduhr: Roman (German Edition)
gebrauchen. Ich habe nur ein paar Notizen von den Interviews heute Morgen ausgearbeitet und wollte mir eigentlich eine verfrühte Siesta gönnen. Aber wenn ich jetzt die Augen zumache, kann ich sowieso nicht abschalten, weil mir so vieles durch den Kopf geht.«
»Ich dachte, das Schreiben hilft dir, deinen Kopf zu lüften?« Holly starrte weiter auf das Tagebuch.
»Na ja, das ist hier gar nicht so einfach. Ich mag den Job und verfluche ihn gleichzeitig. Hier drüben sieht man alles in einem anderen Licht. Schade, dass du nicht hier bist. Dann könntest du dir mal anhören, was die Leute so erzählen, es haut einen um und macht einem ein richtig schlechtes Gewissen. Es gibt hier Tausende, die nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben, die keinerlei Perspektive haben, und ich selber weiß, dass ich jederzeit heim fliegen kann in mein wundervolles Haus zu meiner wundervollen Frau. Ich lebe in einer Sicherheit und Sorglosigkeit, von der diese Menschen nicht einmal zu träumen wagen. Ich bin nicht von Hunger bedroht, ich erhalte jederzeit die nötige medizinische Hilfe. Wenn ich mal
Kinder habe, brauche ich mir keine Sorgen zu machen, dass sie irgendwann Tag für Tag ums nackte Überleben kämpfen müssen. Ich werde in Zukunft nichts mehr als selbstverständlich betrachten.«
Holly zögerte lange mit einer Antwort. Hatte nicht auch Edward Hardmonton Pläne und Hoffnungen für die Zukunft gehabt, bevor die Monduhr sein Schicksal besiegelte? »Du hast recht. Man sollte nichts als selbstverständlich ansehen und lieber froh sein über das, was man hat. Unser Fünfjahresplan ist doch eigentlich arrogant, oder? Wir sollten uns lieber mehr an dem erfreuen, was wir haben, statt nach den Sternen zu greifen.«
Holly war sich bewusst, dass sie damit den Grundstein für die Entscheidung legte, keine Kinder zu haben, aber sie hütete sich, es auszusprechen. Wenn sie es aussprach, stellte sie damit womöglich die Weichen für die Zukunft und löschte Libby endgültig aus. Holly war jedoch noch nicht so weit, dieser Tatsache ins Auge zu sehen.
»Wir reden ja schon wie die Greise«, bemerkte Tom. »Klar, ich bin mir viel zu wenig bewusst, wie gut es mir geht. Wie gut ich es mit dir getroffen habe. Und ich? Ich reise um die Welt und erwarte von dir, dass du ein Leben auf Abruf führst. Ich verdiene dich gar nicht.«
»Ich will nur, dass du glücklich bist, das ist für mich das Wichtigste. Ich weiß, dass ich dir nicht alles geben kann.« Holly stockte und räusperte sich, um den Klos in ihrem Hals loszuwerden. »Aber deine Arbeit geht vor und wird für deine berufliche Zukunft die Weichen stellen.«
»Um mein Leben lang vor der Kamera an einem Tisch zu sitzen, wie?«
»Am Tisch sitzen und ein Buch schreiben hört sich besser an«, gab Holly zu.
Toms Stimmung hob sich hörbar, als die Rede auf das Buch kam, das er schreiben wollte, seine Begeisterung übertrug sich auf Holly und löste ihre Starre. Der Anruf bei Tom hatte seinen Zweck erfüllt. Toms Pläne erinnerten sie daran, dass sie beide auch noch andere Dinge im Leben vorhatten, Dinge, die nicht den Gesetzen der Monduhr unterworfen waren. Es entstand plötzlich eine lange Pause am Telefon, bis Holly merkte, dass sie den roten Faden verloren hatte.
»Langweile ich dich?«, fragte Tom vorwurfsvoll.
»Entschuldige. Nein, nein, du langweilst mich nicht, du öffnest mir die Augen für alles Schöne, worauf wir uns freuen können. Nicht zuletzt auf unser Wiedersehen in ein paar Wochen. Du fehlst mir.«
»Du mir auch«, flüsterte Tom. »Ich liebe dich, Mrs Corrigan.«
»Ich liebe dich auch. Komm heil wieder nach Hause.«
Holly legte das Telefon aus der Hand und sah aus dem Fenster, wo die Monduhr in der Dämmerung leuchtete. »Von dir lasse ich mich nicht unterkriegen«, murmelte sie. Tom hatte ihr vor Augen geführt, dass die Zukunft noch vor ihnen lag. Es gab noch Hoffnung, es musste sie geben, und die wollte sie der Monduhr nicht kampflos opfern, jedenfalls nicht ganz.
NEUN
D as Atelier war erfüllt von emsiger Betriebsamkeit, und Holly hatte in der Hitze, dem Staub und dem ohrenbetäubenden Hämmern Ort und Zeit vergessen. Der Marmorblock, den sie für Mrs Bronsons Skulptur gewählt hatte, war wunderschön, sogar im Rohzustand. Es war fast ein Jammer, den von bunten Adern durchzogenen Stein zu bearbeiten. Aber es half nichts, es musste sein. Drei Tage waren seit dem verhängnisvollen Ausflug zu den Ruinen von Hardmonton Hall vergangen. Sie begriff allmählich, dass
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