Das Geheimnis Der Pilgerin: Historischer Roman
sicher verzehrte er sich nach Gerlin. Wenn sie nur selbst genau gewusst hätte, was sie fühlte. Damals in Lauenstein hatte sie Florís geliebt. Ihm hatte der Frühling gehört, nicht Dietrich. Ihrem jungen Gemahl hatte sie stets nur die Zuneigung einer Mutter oder Schwester entgegengebracht, nicht die einer Braut. Aber dann war der Frühling dem Sommer gewichen, und sie hatte Salomon gefunden. Eine ebenso verbotene Liebe, eine unmögliche Liebe. Und doch eine tiefe Beziehung. Gerlin fühlte sich dem Medikus nach wie vor verbunden - und sie wusste nicht, wie viel davon sie Florís erzählen sollte. Auf jeden Fall war sie noch nicht wieder bereit, einen anderen in die Arme zu schließen. Und erst recht konnte sie nicht noch einen Mann verlieren. Solange Florís im Heer des Königs kämpfte - noch dazu an vorderster Front, sicher war es kein Zufall gewesen, dass gerade er und seine Truppe König Philipp und sein Kronarchiv ausgespäht hatten -, konnte er jeden Tag fallen. Gerlin wusste, dass sie das nicht überleben würde. Nicht ein dritter Mann in nur einem Jahr. Nicht ein weiterer schrecklicher Tod wie Salomons Ende am Port en Grève.
So gesehen hätte Gerlin sich Florís jetzt lieber in unscheinbarer Kleidung präsentiert, und sie fühlte sich auch mehr nach einem schlichten, vielleicht etwas schuldbewussten Auftreten denn nach dem einer großen Dame. Aber andererseits liebte die Herrin Aliénor höfische Auftritte - zumindest musste Gerlins Kleidung ihrem Stand angemessen und sauber sein. Das aquamarinblaue Kleid, das sie am Abend zuvor ausgewählt hatte, wäre richtig gewesen. Aber nach dem Ritt und nachdem der endlich erwachte Dietmar sie obendrein mit alldem halb verdauten Wein und Brot aus seinem Magen bespuckt hatte, war es nicht mehr vorzeigbar.
Gerlin betrachtete unschlüssig ihre Kleider, bis Miriam aufgeregt an der Plane des Wagens zupfte. »Gerlin, hier ist eine Truhe für dich, von der ... von der Königin Eleonore! Sie bittet dich, das Geschenk anzunehmen. Du repräsentierst ... so ähnlich sagt das jedenfalls der Page ... doch ihren Minnehof!«
Gerlin wurde glühend rot. Als Repräsentantin eines Minnehofes wollte sie eigentlich nicht vor dem König erscheinen, aber andererseits würde die Herrin Aliénor schon wissen, was sie tat. Gemeinsam mit der aufgeregten Miriam öffnete Gerlin die Truhe, die ein kleiner Page mit Abrams Hilfe auf den Wagen wuchtete. Sie war aus schwerem Holz, mit Eisen beschlagen, eine stabile Reisetruhe.
Miriam hielt den Atem an, als Gerlin das Gewand herauszog, das ganz obenauf lag. »Das ist wunderschön, Gerlin! Oh, das ist ein Traum, ein Kleid für eine Hochzeit!«
Gerlin lächelte. »Wenn es nach meiner Begegnung mit Richard nicht blutbefleckt ist oder ich darin als Ketzerin verbrannt werde, kannst du es gern für deine Hochzeit haben«, sagte sie großzügig. »Ich brauche es dafür wohl nicht mehr ...«
»Nicht?«, neckte Miriam und hielt sich das Kleid an.
Zu ihrem Teint passte es nicht ganz so gut wie zu Gerlins Haar und ihren Augen. Es bewies, wie genau sich die Herrin Aliénor an jede Einzelheit im Aussehen ihrer Pflegekinder erinnerte. Die Königin hatte einen Stoff gewählt, dessen Farbe genau Gerlins klaren blauen Augen entsprach, und die darauf genähten Edelsteine unterstrichen ihr Leuchten. Dazu gehörte ein Schleier in lichterem Blau, den ein ebenfalls edelsteinbesetztes Diadem krönte.
Florís stockte der Atem, als Gerlin in ihrem neuen Staat aus dem Wagen kletterte. »Du bist unsagbar schön«, flüsterte er.
»Das hat ein Vermögen gekostet!«, bemerkte der weniger leicht zu beeindruckende Abram. »Und es steht dir wirklich hervorragend, Herrin Gerlin. Pass bloß auf, dass der König nicht gleich die Rechte einfordert, die du ihm angeblich bereits gewährt hast!«
Gerlin lachte und zog Dietmar an sich, für den sich ebenfalls Kleider in der Truhe gefunden hatten - in den unterschiedlichsten Farben. Das Kind würde herauswachsen, bevor es all die kleinen Tuniken tragen konnte. Aber die Herrin Aliénor wünschte ihre Schützlinge perfekt auszustatten - was Dietmar anging, so hatte sie wohl seine Haar- und Augenfarbe nicht gekannt. Der Kleine wirkte an diesem Tag etwas blass und war quenglig.
»Sein erster Kater«, bemerkte Abram lachend. »Aber im Nachhinein war's ganz gut, dass dieser Odemar ihn betäubt hat. Diese Leiter hinabzusteigen war so schon vertrackt genug, mit einem zappelnden Kind wäre es erst recht schwierig geworden. Wie gut, dass
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