Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
Wahrheit sprach. Im Augenblick des Wegdämmerns empfand sie stärker als jemals zuvor, dass ihr Schicksal ihrer Bestimmung folgte.
Am anderen Morgen erwachte sie mit einem feuchten Tuch auf der Stirn und einem wohligen Duft von Weihrauch und Anis in der Nase. Ihre Augen blieben an der niedrigen Decke hängen. Durch kleine, aber regelmäßig angeordnete, viereckige Schächte rieselte Licht wie Blütenstaub in den halbdunklen Raum. Schön und ernst saß der Sufi mit untergeschlagenen Beinen in der Zimmerecke. Schlief er, wachte er? Der Schatten, in den er sich zurückgezogen hatte, verbarg seine Augen. Doch dann spürte sie seinen intensiven Blick, und in ihr stieg der Verdacht auf, dass er die ganze Nacht so bei ihr gewacht und sie beobachtet hatte. Einerseits schmeichelte es ihr, andererseits berührte es sie unangenehm. Denn der Schlaf war die Zeit der Wehrlosigkeit. Ein unkontrol liertes Lächeln, ein unbedachter Laut, ein hingemurmeltes Wort vermochten mehr von ihr preiszugeben, als sie wünschte.
Bevor sie sich weiter darüber den Kopf zerbrechen konnte, erklärte er ihr, sie habe sich zu lange ohne Kopfbedeckung in der Sonne aufgehalten. Der Feuerball habe alles Wasser aus ihr herausgezogen, so dass sie zu fiebern begonnen habe.
»Hab ich im Fieber geredet, im Schlaf gesprochen?«
»Nein.«
Die Antwort beruhigte sie nicht, denn sie ahnte, dass er taktvoll alles vermeiden würde, was sie in Verlegenheit bringen könnte.
»In diesem Bett hat auch dein Bruder gelegen.« Hafis erhob sich und verließ kurz den Raum. Er kehrte mit einem Teller, auf dem sich Weintrauben und Melonenstückchen türmten, zurück, und stellte ihn auf den kleinen achteckigen Tisch aus dunklem Holz neben ihrem Bett. Jetzt erst entdeckte sie die kostbaren Mosaikarbeiten aus blauen, weißen, grünen und roten Steinchen, die den Fußboden bedeckten. Und während sie die Früchte genoss, den süßen Saft, der ihren Mund füllte und die letzten Schwächen vertrieb, erzählte ihr Hafis von seiner Begegnung mit Christian.
Vor über zwei Jahren hatten ihn die Karmelitermönche gerufen, weil sie einen jungen Pilger beherbergten, der erkrankt war und dem sie nicht mehr zu helfen wussten. Er hatte hohes Fieber und einen bellenden Husten, der keine Ruhe geben wollte, und er begann schon zu halluzinieren. Die guten Karmeliterbrüder sahen seine Seele bereits auf dem Weg zu Gott. Die Symptome, die Hafis schilderte, hörten sich für Maria so an, als habe er sich bei Johannes angesteckt und die beschwerliche Reise die schwelende Krankheit zum Ausbruch gebracht. Die Einsiedler vom Berg Karmel wussten durch ihre lange Nachbarschaft mit dem Ribat der Sufis, dass sich einige unter ihnen, wie Hafis, ausgiebig mit der Heilkunst beschäftigten, so dass sie zwar ohne viel Hoffnung, aber dennoch nach ihm schickten. Hafis untersuchte Christian in der schattigen Mönchszelle. Er stellte fest, dass Christian tatsächlich zwischen Leben und Tod schwebte, sein Schicksal jedoch noch nicht besiegelt war. Eile war geboten. Hafis schlug vor, den jungen Dominikaner zu ihm in den Konvent der Sufis zu bringen.
Dort begann er mit der Behandlung. Einen Monat rang er mit der Krankheit und besiegte sie schließlich. Doch Christian hatte bei den Karmeliterbrüdern Visionen oder Fieberträume gehabt in der Zeit, in der sein Leben auf Messers Schneide stand. Hafis erkundigte sich nach diesen Visionen und erfuhr, dass die Weisen von Damcar den jungen Christen eingeladen hatten, zu ihnen zu kommen. Christian war hin- und hergerissen, denn auf der einen Seite stand sein fester Vorsatz, nach Jerusalem zu pilgern, auf der anderen Seite hatte die Einladung eine Sehnsucht in ihm geweckt, die er immer weniger zu bekämpfen wusste. Einzig die Furcht, die Einladung der Weisen könnte sich als eine Finte des Teufels erweisen, der ihn von der Pilgerreise abzubringen versuchte, und seine Unkenntnis darüber, wo dieses Damcar lag, hielten ihn zurück, dem Verlangen seines Herzens zu folgen.
Aber auch Hafis erschütterte die Vision. Allerdings aus einem anderen Grund. Er zweifelte weder an ihrer Echtheit noch argwöhnte er, dass der Teufel dahintersteckte. Denn er selbst sehnte sich danach, von ihnen zu lernen. Er hatte gefastet und meditiert, gebetet und immer wieder andere Sufis, die weit herumgekommen waren, befragt, wo Damcar genau liege und wie man zu den Weisen gelange. Alles, was er jedoch in Erfahrung zu bringen vermochte, lief immer auf das Gleiche hinaus: dass die Weisen den
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