Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
bei Gott die Pracht, wie vergänglich das, was lebendig ist, weil in jeder Minute, die Gott, der Erhabene, sein lässt, die Existenz des allerbedeutendsten und des allergeringsten Menschen ein Ende finden kann. Ein Unfall, eine Seuche, ein Mörder, ein Verlust, ein Unwetter, große Kreaturen oder winzige Kerbtiere, üble Nachrede oder Denunziation können unseren Lebensfaden abschneiden. Sagt das nicht zur Genüge, wie eitel und dumm unser ganzes Planen und Mühen und Handeln ist? Worauf bauen wir? Auf eine Hoffnung, die sich allzu oft nur als Illusion entpuppt.«
Maria lockerte ihren Griff um den Dolch. In seinen Augen leuchtete ein jungenhafter Charme, der trotz allen missionarischen Eifers sympathisch wirkte, weil er großes, unverbrauchtes Staunen enthielt.
»Es sind die Menschen, die aus der Erde ein Jammertal machen, nicht der Allerhöchste. Die Kunst besteht darin, vollkommen leer zu werden, um Platz für ihn zu schaffen. Denn die Vereinigung mit ihm muss im Menschen stattfinden. Wenn ich in mir Platz für Gott schaffe, ganz leer von Begierden, Gedanken und Gefühlen werde, dann kommt der Übergute zu mir und gibt so viel von sich zu schauen, wie ich kleiner Mensch auszuhalten imstande bin.«
Die Worte kamen ihr vertraut vor. Das Gleiche hatten auch Bruder Johannes und Mechthild gesagt. Aber jetzt hatte sie keinen Christen, sondern einen Muslim vor sich. Suchten sie denn wirklich alle nach dem Gleichen: Mechthild, Johannes und dieser Sufi? Noch konnte sie es nicht glauben, es wäre zu einfach und zu schön, um wahr zu sein. Also bohrte sie weiter. Irgendwo musste sich doch ein Haken verstecken. »Welchen Gott meinst du, den der Juden, den der Christen oder den der Muslime?«
»Ich meine Gott, den Erhabenen! Der Rest ist doch unerheblich. Die Glaubensbekenntnisse sind Menschenwerk. Angesichts der Größe und der Unverstehbarkeit Gottes brauchen die Menschen Regeln und Vorstellungen. Meinst du, er, der über allem steht, lässt sich in die armseligen Vorstellungen der Menschen sperren? Niemand kann sich ein Bild von ihm machen, und dennoch können die Menschen nicht anders, als ihn sich vorzustellen. Verstehst du? Deshalb schaffen sie sich Regeln, Gesetze, Vorstellungen, Rituale und Zeremonien. Aber damit hat Gott nichts zu schaffen. Sein Wirken findet sich in dem, worin die drei Religionen übereinstimmen, nicht in ihren Unterschieden. Die sind Menschenwerk, ein eitles Spiel der Macht und nicht des Glaubens.«
»Du bist ein Häretiker!«, rief sie. Seine Gedanken faszinierten sie, zugleich erschreckte sie das Denken des Fremden aber auch.
»Nun, weder die Muslime noch die Christen und auch nicht die Juden würden meine Ansichten guthei ßen. Aber was kümmert es mich, was die Menschen sich einreden, zu welchen Banalitäten sie Zuflucht nehmen? Unser Größter Meister hat gesagt: Ich folge der Religion der Liebe/wohin ihre Reittiere auch ziehen .«
Jetzt ließ Maria den Dolch ganz los. Der Sufi beeindruckte sie. Als hätte er die ganze Zeit von nichts anderem gesprochen, fragte er sie nach dem Grund und dem Ziel ihrer Reise. Und sie erzählte ihm von ihrem Bruder, den sie ihm auch beschrieb.
»Heißt dein Bruder Christian Rosenkreuz?«
Marias Augen leuchteten auf, und ihr wurde schlecht vor Aufregung. »Du kennst ihn?«
Er nickte. Erregt sprang sie auf, taumelte, und er fing sie geistesgegenwärtig auf. Obwohl ihr übel war, ihre Gedanken so schnell in ihrem Kopf rotierten, dass sie keinen einzigen zu greifen bekam, bereitete ihr die Sicherheit seiner starken Arme ein Wohlgefühl. Ein beruhigender Duft von Männlichkeit drang ihr in die Nase.
»Wie lange hast du schon nichts mehr getrunken, nichts mehr gegessen, du großer Faster?«
»Erzähl mir von meinem Bruder!«, hauchte sie, von Neugier getrieben.
»Gleich, sobald du gegessen und getrunken hast.«
Kapitel 20
W eil es schneller ging, trug er sie einfach. Zu dieser vorgerückten Stunde trafen sie niemanden auf der Straße, der an dem merkwürdigen Anblick – ein muslimischer Sufi trug einen christlichen Mönch auf den Armen – hätte Anstoß nehmen können. Halb im Dämmer nahm sie noch wahr, dass sie ein zweistöckiges, weiß getünchtes Gebäude ohne Fenster betraten, das wie eine Bastion wirkte. Mauerzinnen umgaben das offenbar begehbare Dach. Wohin bringt er mich, dachte sie nur, war aber zu schwach, um zu fragen, und überließ sich ihm einfach. Immerhin stellte er die einzige Verbindung zu ihrem Bruder dar, vorausgesetzt, dass er die
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