Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
Besucher einladen und selbst zu sich führen mussten. Deshalb erschütterte es ihn zutiefst, dass seine Bemühungen erfolglos geblieben waren, während einem Christen die Einladung, nach der er sich so sehr verzehrte, zuteil wurde. Doch es half kein Klagen und kein Zürnen. Da der junge Dominikaner, aus welchen Gründen auch immer, nun ein Auserwählter war, konnte Hafis nicht anders, als sich dem Willen Gottes demütig zu beugen. Seine Aufgabe bestand jetzt darin, Christian zu helfen. Zu verzichten und dem anderen zu ermöglichen, was er selbst am meisten auf der Welt begehrte, verstand Hafis als eine Prüfung, die er annahm.
So kam es, dass Hafis Christian in das Geheimnis der Weisen von Damcar einweihte. Sie waren die verborgenen Meister der Sufis, die allein durch Denken an allen Orten der Welt zu erscheinen und über große Entfernungen hinweg zu kommunizieren verstanden. Was Christian in seiner Krankheit widerfahren war, konnte man deshalb genau genommen nicht als Vision bezeichnen, vielmehr waren die Weisen tatsächlich mit ihm in Kontakt getreten. Zwar kannte Hafis nicht die exakte Lage von Damcar, wusste aber immerhin so viel, dass man in den Jemen reisen musste. Es lag irgendwo in der Wüste zwischen Sana’a und dem Roten Meer. Wenn die Weisen wollten, dass er zu ihnen käme, würden sie ihm den Weg schon weisen. Die Reise anzutreten, lag bei ihm, ans Ziel zu gelangen jedoch bei ihnen.
Christian machte es sich nicht leicht und durchforschte seine Gedanken, sein Gefühl und sein Gewissen. Von der Krankheit schließlich restlos genesen, beschloss er, nach Damcar statt nach Jerusalem weiterzu reisen, weil die gründliche Gewissensprüfung ergeben hatte, dass sein Weg ihn tatsächlich zu den Weisen führen würde, zum lebendigen Wissen und nicht zu einem leeren Grab.
Es kam der Tag, an dem sich Christian von Hafis verabschiedete. Eine vergebliche Hoffnung ließ Hafis fragen, ob er Christian begleiten dürfe. Doch dieser lehnte ab. Und sagte einen Satz, der Hafis bis heute beschäftigte: »Für dich ist eine andere Aufgabe vorgesehen!«
»Für mich ist eine andere Aufgabe vorgesehen«, wiederholte Hafis mit traurigem Blick.
Maria setzte sich auf die Bettkante. Auch wenn ihr Bruder in eine ferne Gegend gezogen war, von der sie noch nie etwas gehört hatte, so hatte sie doch seine Spur wiedergefunden, und allein das spendete ihr große Freude und vor allem neue Zuversicht. Im Stillen dankte sie Gott dafür.
»Dann wirst du auch mir den Weg nach Damcar erklären müssen!«, erklärte sie und sah den Sufi verwegen an.
Er schüttelte den Kopf. »Das ist viel zu gefährlich für eine Frau, und es ist weit. Räuberische Beduinen und todbringende Wüsten liegen auf dem Weg zwischen Damaskus und Damcar!«
»Das schreckt mich nicht.« Genüsslich zerquetschte sie mit ihrer Zunge die letzte Weintraube. Ihr Entschluss stand fest.
»Du wirst es nicht finden. Die Weisen haben dich nicht eingeladen.«
»Man kann nicht einfach den Bruder zu sich bitten und die Schwester vor der Tür stehen lassen. Ich gehe, ganz gleich, ob du mir mit deinem Wissen hilfst oder nicht.«
Ihre Blicke trafen sich. Bei aller Freude darüber, eine Spur gefunden zu haben und die Suche wiederaufzunehmen, tat ihr der Abschied von ihm weh, und das verwunderte sie. Hafis bat sie um etwas Geduld. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Dann verließ er den Raum. Später erfuhr sie von ihm, dass er in den Garten des Konvents gegangen war und sich unter einer Dattelpalme niedergelassen hatte, um zu meditieren. Vor ihm stand die Frage, was seine Bestimmung war, ob sich hier die Aufgabe offenbarte, die für ihn vorgesehen war, wie es Christian damals angedeutet hatte. Bestand womöglich seine Auf gabe darin, Maria nach Damcar zu begleiten und für ihren Schutz zu sorgen? Es hieß zuweilen, man werde die eigene Aufgabe erkennen, wenn sie sich zeigte. Doch ganz so einfach schien es nicht zu sein. Wie schied man das, was man glauben wollte, von dem, was man glauben sollte? Hafis verbrachte eine für Maria quälend lange Zeit im Garten, denn da sie nun den Weg vor sich sah, fieberte sie der Stunde des Aufbruchs entgegen.
Schließlich kehrte er zurück und ließ sich wieder in der Ecke nieder, die dunkler war als zuvor, da die Sonne bereits um den Ribat gewandert war und nicht mehr versuchte, durch die kleinen Lichtscharten einzudringen. »Ich komme mit.«
Im ersten Moment freute sie sein Entschluss, dann fragte sie sich, ob sie das überhaupt annehmen
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