Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
auf sie zugerollt war, ein gigantischer Heuschreckenschwarm gewesen war. Sie hatte gut daran getan, sich in Sicherheit zu bringen. Denn wenn diese Milliarden Heuschrecken sehr ausgehungert waren, fielen sie alles an, was lebte. Der Schwarm hätte sie erstickt.
Inzwischen hatte sich der Sturm gelegt. Sie traten aus dem Haus und schauten sich um. Ein Laut des Staunens entwich ihr. Er sah sie überrascht an und folgte ihrem Blick, den sie nicht vom Himmel zu lösen vermochte.
»Ein Kreuz, ein Kreuz aus Sternen«, rief sie bewundernd.
»Unterscheiden sich eure und unsere Sterne?«
»Ich habe nie darauf geachtet«, gestand sie, »aber auch noch nie zuvor dieses Kreuz gesehen.«
Er legte ihr seinen Arm über die Schulter. Sie genoss es und schmiegte sich an ihn.
»Wer hier wohl gelebt haben mag?«
»Die Weisen«, antwortete er traurig. Sie machte sich frei, dann hämmerte sie mit ihren Fäusten wild auf ihn ein.
»Das ist nicht Damcar!« So durfte ihre Reise nicht enden! »Das kann nicht Damcar sein! Nie und nim mer!« Nicht, nachdem sie sich so weit durchgekämpft hatte. Hafis ertrug die Schläge ihrer Verzweiflung. Sie bearbeitete seinen Brustkorb so lange mit Fäusten, bis sie ermüdete. Dann sank sie in seine Arme und weinte hemmungslos. Zum ersten Mal seit dem Mord an ihren Eltern fühlte sie sich wieder wie ein kleines Mädchen, hilflos und grenzenlos traurig. Sie roch seine Kraft, und es tat ihr gut.
»Warten wir ab, was uns die Stadt zu sagen hat«, meinte er.
Das klang nicht altväterlich und nur aus Trost so dahingesagt, sondern mit echter Neugier geäußert. Verwundert blickte sie ihm in die Augen, aber dort sah sie nur Entschlossenheit. Dann fühlte sie seine weichen Lip pen und wollte sich der Lust, die sie empfand, gerade hingeben, als er sie brutal hinter sich zerrte. Zuerst über rascht, dann wütend warf sie ihm einen feurigen Blick zu. Er wirkte hart und hielt ihren Dolch in der Hand. Sie schaute nach links und entdeckte nun ebenfalls, was er nicht aus den Augen ließ: einen Mann mit zotteligen grauen Haaren und einem aus grauen Flicken zusammen geschusterten Gewand. Seine Augen verblüfften durch ihre helle Farbe und die erschütternde Ausdruckslosigkeit ihres Blicks.
»Wer bist du?«, fragte Hafis.
Maria vermutete, dass es sich um dieses Geschöpf handelte, das hinter ihrem Rücken hin- und hergesaust war. Das Wesen antwortete mit einer hohen und gebrochenen Stimme. Sie brauchten eine Weile, bis sie begriffen, dass er nicht eine einzelne Sprache sprach, sondern ein kurioses Gemisch aus Arabisch, Latein, Hebräisch, Aramäisch und etwas, das sie beide nicht kannten, was Hafis aber für Koptisch hielt, das Idiom der ältesten Christen, die in Südägypten oder Äthiopien lebten.
Lange sprachen sie mit ihm, fragten immer wieder nach, bis sie verstanden, was die Gestalt sagen wollte. Und so erfuhren sie vom Untergang der Stadt der Weisen. Die Menschen hatten vergessen, was sie an den Weisen besaßen; anstatt sie zu schützen und um Rat zu bitten, überfielen sie sie immer wieder. Räuber, Mörder und muslimische Fanatiker fielen abwechselnd über den Ort her, den bisher seine Weisheit und die Achtung vor der Weisheit geschützt hatte. Die Bewohner hatten be griffen, dass ihre Zeit hier unwiederbringlich dahin war, und beschlossen, die Siedlung aufzugeben und nach Fu stat weiterzuziehen. Ihn aber hatte man zurückgelassen, damit er Maria und Hafis Auskunft erteilen konnte, wenn sie eines Tages eintreffen sollten. Darin bestand seine Aufgabe.
»Nun seid ihr da, nun ist meine Aufgabe erfüllt. Geht nach Fustat. Christian lebt. Die Weisen leben, auch wenn Damcar nur noch eine Ruinenstadt ist«, schloss die kuriose Gestalt seine traurige Erzählung.
Warum hassten die Menschen die Weisheit nur so, warum schützten sie sie nicht, sondern stellten ihr nach? Hafis schwieg betreten.
»Und du? Was wird aus dir?«, fragte Maria voller Mitgefühl.
»Ich werde euch helfen, an Kleidung, Kamele und Reisegeld zu kommen, dann aber …« Ein Lächeln, so befreit und so schmerzlich, wie sie es noch nie im Antlitz eines Menschen erblickt hatte, verzauberte das Gesicht des Wesens und entzündete in den toten Augen ein Strahlen übernatürlicher Schönheit. »Dann aber gehöre ich dem Wind, der in die Wüste weht, und den ihr nur die Ewigkeit nennt.«
Kapitel 25
N achdem Selim, so hieß das Wesen, sich die struppigen Haare abrasiert und in dem Teich ein Bad genommen hatte, zogen sie am Abend zu dritt los. Sie
Weitere Kostenlose Bücher