Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
folgten einem Weg, der aus der verlassenen Stadt in ein Gebirge führte, das aus verwittertem Gestein bestand. Die Steine schienen von der Sonnenhitze zu glühen, die sie nun langsam an die kühlere Nacht abgab. Ein süßlicher Geruch nach wilder Myrte stach Maria in die Nase. Kurz vor Mitternacht erreichten sie einen Felsvorsprung. Maria schaute sich um und entdeckte, dass auf einer Felsna se unweit von ihnen ein Waran sie neugierig beobachtete. So wie er in den Wadi schaute, der sich unter ihnen ausbreitete, wirkte er wie ein Wüstengeist, der die Gestalt der Rieseneidechse angenommen hatte. Alt und unbewegt von der Welt machte das Tier den Eindruck, als hockte es schon seit Anbeginn der Welt dort und hätte alles gesehen, was das Leben bot. Selim riss Maria aus ihren Gedanken, als er ihnen zuraunte, dass sie jetzt mit dem Abstieg begännen. Unten angekommen, würde er sich dann in das Lager der Räuber schleichen und sie verwirren, während sie sich noch im Schatten der Berge verborgen halten sollten. Auf sein Zeichen hin sollten Maria und Hafis sich Kleidung, Geld und Kamele nehmen und so schnell wie möglich davonreiten, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Maria wollte etwas ein wenden, doch Selim lächelte sie zufrieden an.
»Mach dir keine Sorgen. Längst ist im Himmel beschlossen, wie es für euch und für mich weitergeht. Denn nicht der Mensch sucht sich eine Aufgabe, sondern die Aufgabe findet den Menschen, es kommt nur darauf an, ob er sich ihrer als würdig erweist oder zu klein für das ist, was ihm zugedacht wurde.« Dann legte er gebieterisch den Finger auf den Mund, und sie begannen, den teilweise recht steilen Abhang hinunterzuklettern. Dabei setzten sie vorsichtig ihre Schritte, um nicht das lockere Geröll ins Rutschen zu bringen. Sie durften keinesfalls Lärm verursachen und Aufsehen erregen. Am Fuße des Berges verbargen sich Maria und Hafis hinter einem Felsbrocken, der irgendwann einmal zu Tal gedonnert und am Wegesrand liegen geblieben war.
Selim aber richtete sich auf und schritt aufrecht auf die Räuber zu, die um ein Feuer lagerten. Bisher hatte ihn Maria nur gebückt und mit krummem Rücken wahrgenommen. Wobei ihr entgangen war, dass Selim in Wirklichkeit ein großer, schlanker Mann war. Er hatte seine wahre Gestalt vor ihnen verborgen. Wie flüssiges Silber fiel das Mondlicht auf ihn und umgab seine Gestalt mit einer Gloriole. Der rasierte Schädel erinnerte sie an ein Jesusbild, das eine der Beginen in Straßburg gemalt hatte. Die Räuber schienen ihn nicht zu bemerken, gerade so, als wäre er aus Luft. Er setzte sich zu ihnen, erst da sahen sie ihn und verhielten sich, als würden sie ihn kennen, als gehörte er zu ihnen und wäre nur einmal kurz weg gewesen, um seine Notdurft zu verrichten. Dann hob er den Arm, und alle erstarrten. Maria und Hafis schlichen zum Lager. Hafis wühlte in einem Bündel Klei der, bis er ein gelbes Hemd, eine feuerrote Hose und einen himmelblauen Kaftan gefunden hatte. Auch ein sternenverzierter dunkelblauer Turban hatte es ihm angetan. Er setzte ihn auf. Dann wählten sie drei Kamele aus. Das dritte Kamel, das sie an Hafis’ Tier banden, beluden sie mit Wasser, Proviant und Kleidung zum Wechseln. Der Perser freute sich, seinen Koran sowie ein weiteres Büchlein wiedergefunden zu haben. Selim warf ihm eine Geldbörse zu, die er dem Anführer, der mit seinem Kumpanen immer noch wie versteinert dasaß, vom Gürtel geschnitten hatte, und nickte noch einmal aufmunternd zum Abschied in die Richtung der beiden.
Sie bestiegen ihre Kamele und ritten zügig los. Nach einiger Zeit schaute sich Maria um, und es war ihr, als lös te sich eine hochgewachsene Gestalt im Wind der Wüste auf. Wie ein Schleier Silberregen im Meer der Dunkelheit, dachte sie. Im gleichen Augenblick rief ihr Hafis zu: »Komm, jetzt müssen wir uns beeilen.« Sie trieb ihr Kamel an, um nicht hinter dem Gefährten zurückzubleiben.
Am Morgen erreichten sie eine kleine Stadt, deren Bewohner misstrauisch und sehr zurückhaltend wirkten. Der nächtliche Ritt steckte ihnen in den Knochen. Nach den Aufregungen der letzten Tage sehnte sich Maria nur nach einem sicheren Rastplatz. Die Müdigkeit begann, ihr physische Schmerzen zuzufügen. Sie fragte sich, ob ihnen die Bewohner des Dorfes, in das sie ritten, friedlich oder feindlich gesonnen waren.
Als sie aber über einem kleinen Lehmbau einen Davidstern entdeckte, wusste sie, dass sie in einen jüdischen Ort geraten waren, und atmete
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