Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
unwillkürlich erleichtert auf. Ihr Vater, erinnerte sie sich, hatte ihr davon erzählt, dass die Juden, nachdem sie von den Römern aus Jerusalem vertrieben und über die gesamte Welt verstreut wurden, bis an die Südspitze Arabiens gezogen seien und dort sogar Königreiche gegründet hätten. Muhammads Gefolge hätte diese Königreiche zwar zerstört, aber über all im südlichen Arabien könne man noch heute jüdische Gemeinden finden. Sie hatte das immer für ein Märchen, bestenfalls für eine Legende gehalten. Dafür leistete sie ihrem Vater nun im Stillen Abbitte.
Maria fragte einen Mann auf Hebräisch nach dem Rabbiner. Der Dorfbewohner, ein gedrungener, glatzköp figer Mittvierziger schaute sie zunächst verdutzt an, dann wies er auf ein einstöckiges Lehmhaus mit dicken Mauern und fast quadratischem Grundriss. Es hatte keine Fenster zur Straße hinaus, lediglich kleine Lichtlöcher. Maria bedankte sich, stieg vom Kamel und klopfte an die Tür.
Kurz darauf öffnete ein kleiner Mann mit langem weißen Bart, Schläfenlocken und Gebetsriemen, der ihre Ankunft beobachtet zu haben schien.
Maria begrüßte den Rabbiner auf Hebräisch: »Gott sei mit dir, Lehrer, wir bitten dich, Einkehr bei dir halten zu dürfen und uns ein wenig auszuruhen.«
»Wo kommst du her, mein Sohn?«
Sie überlegte einen Moment, dann beschloss sie, sich dem Rabbiner anzuvertrauen. »Ich bin die Tochter des Rabbiners Meir Yehuda ben Schlomo aus Straßburg, und mein Begleiter ist Hafis von Schiras, ein Sufi aus Persien.«
»Ist aus dir etwa auch ein Christ geworden?«, fragte er streng.
Sofort begriff sie, wie er auf diese Frage gekommen war. Nur von einem einzigen Menschen konnte er etwas über ihren Vater erfahren haben. »Ist Christian hier vor beigekommen?«, erkundigte sie sich. Ihr Herz schlug wild vor Aufregung.
Der Rabbiner nickte und bat sie ins Haus. Ein Gang führte in einen Innenhof, der Maria erstaunte, weil er sich als gut bewässerter und blumenreicher Garten präsentierte.
Nicht zum ersten Mal fiel ihr auf, dass sich im Morgenland zur Straße hin hinter schmutzigen, schiefen und sehr ärmlich wirkenden Wänden Paläste verbargen. Die Menschen versteckten, was sie besaßen, aus gutem Grund, um keinen tödlichen Neid zu wecken.
In der Mitte neben einem Brunnen bedeckten Teppiche den rotgelben Lehmstein, zwischen denen ein länglicher Tisch stand, der von den Gobelins aus bequem zu erreichen war. Der Rabbiner führte seine Gäste zu den Sitzgelegenheiten und bat sie, Platz zu nehmen. Ein junges Mädchen mit tiefschwarzen Haaren und Mandelaugen servierte Tee, Gebäck und Obst. Dann verschwand sie wieder so schnell, wie sie gekommen war, ohne ein Wort zu sagen.
»Meine jüngste Tochter«, sagte der Rabbiner nicht ohne Stolz. Prüfend richtete er seine grauen Augen auf Maria. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet!«, mahnte er sie streng.
Da nicht der Vater, sondern die Mutter entscheidend war für die Zugehörigkeit zum auserwählten Volk, wog die Abkehr einer Frau vom Glauben der Vorväter sehr viel schwerer. Mit einem Mann verlor der Stamm lediglich den Mann, mit der Frau die gesamte Nachkommenschaft. Sie hatte gehofft, dass der Rabbiner die Frage vergessen hätte oder taktvoll nicht noch einmal stellen würde, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen.
»Ach Rebbe, wie soll ich dir darauf antworten? Ich bin Jüdin, die in christlicher Verkleidung überlebt hat, und suche nun im Gewand eines Sufis und versteckt hinter dem Geschlecht eines Mannes meinen Bruder, den einzigen Menschen, der mir von meiner Familie geblieben ist, die einzige Liebe, die ich auf der Welt empfinde. Ich habe zu oft die Rollen wechseln müssen, um dir zu antworten. Eine Christin bin ich nicht, eine Muslima gewiss auch nicht, aber ob ich noch eine Jüdin bin, das weiß ich nicht.«
»Suchst du einen Glauben oder deinen Bruder? Der Mensch muss wissen, wer er ist. Und das sagt ihm der Glaube«, wandte der Rabbiner ein.
»Mein Herz war fähig, jede Form zu tragen,
Gazellenweide, Kloster wohlgelehrt
Ein Götzentempel, Kaaba eines Pilgers,
Der Thora Tafeln, der Koran geehrt:
Ich folg’ der Religion der Liebe, wo auch
Ihr Reittier zieht, hab’ ich mich hingekehrt,
sagt der Shaykh Akbar, der größte Meister«, warf Hafis auf Arabisch ein. Er musste die Zeilen nicht übersetzen, denn sowohl der Rabbiner als auch Maria verstanden genügend Arabisch.
Der Rabbiner runzelte die Stirn und bot Maria Weintrauben an, bevor er selbst ein paar
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