Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
behutsam und still, dann immer ungestümer und lauter. Anfangs tat es ihr weh, dann vermischte sich der Schmerz immer mehr mit Lust, die den Schmerz schließlich auflöste wie das Meer einen Tropfen Wein.
Kapitel 29
A ls sie erwachte, hielt sie die Augen aus Scham und Unsicherheit noch eine Weile geschlossen, weil sie seinen Blick fürchtete. Was würde sie darin lesen? Überheblichkeit? Glühende Liebe? Ekel oder Bewunderung? Sie hatten in ihrer Leidenschaft den anderen bis auf den Grund ihrer Seelen schauen lassen. So nah ihr Hafis war, so fern kam er ihr zugleich vor, vertraut und fremd in einem. Dieses Gefühl machte ihr Angst, weil es so neu war. Sollte sie Hafis zärtlich oder distanziert begegnen?
Das Grübeln erwies sich zum Glück als nutzlos, denn er rief ihr einfach zu: »Aufstehen, du Langschläfer, sonst geht die Reise ohne dich weiter!«
Unverschämter Kerl, dachte sie belustigt, kümmert sich überhaupt nicht darum, wie es mir geht, dann aber dankte sie ihm im Stillen dafür, dass er es ihr durch seinen scherzhaften Ton so leicht machte. Sie spürte, wie ein Lächeln ihre Lippen entkrampfte, öffnete langsam die Augen und entdeckte zu ihrer Freude das Frühstück. Käse, Honig, Fladenbrot, Weintrauben, Feigen und einen Granatapfel. An diesem Tag brachen sie erst gegen Mittag auf. Sie genoss es, ihm bei den maritimen Arbeiten wie Ankerlichten und Segelsetzen zuzuschauen, die er von Tag zu Tag besser beherrschte, das Spiel seiner Muskeln zu beobachten und sich daran zu erinnern, wie sie sich anfühlten. Dann setzte er sich am Heck zu ihr und übernahm die Ruderpinne. Das Boot zog über den Nil dahin, die Sonne im Rücken.
»Warum reden so viele Christen und so viele Sufis von Enthaltsamkeit?«, fragte sie ihn, weil ihr der Gedanke seit gestern nicht mehr aus dem Kopf ging.
»Ich nicht.«
»Ich weiß«, lachte sie. »Oh, ich weiß, aber das ist keine Antwort.«
»Du kennst die Antwort. Sie glauben, sich Gott zu nähern, indem sie die Wünsche ihres Körpers verleugnen und unterdrücken. Deine Frage lautet anders.«
»Da bin ich aber mal gespannt.«
»Du fragst dich, ob sie Recht haben, ob diese Vorstellung stimmt. Nähern wir uns Gott wirklich, finden wir ihn, schauen wir ihn tatsächlich, wenn wir unseren Körper verneinen und ihn sogar als Feind betrachten? Oh, ich kenne tausend Arten, den Körper abzutöten, aber nur eine, ihn zu heilen.«
»Die wäre?«
»Du kennst sie.«
»In der Heiligen Schrift heißt es: Seiet fruchtbar und mehret euch!«
»Die Bibel hat Recht. Wozu soll uns Gott den Körper gegeben haben, wenn wir keinen Gebrauch von ihm machen dürfen?«
»Weil er uns prüfen will?«, führte sie probehalber ein Argument ins Feld, das sie häufig gehört hatte.
»Reichlich viel Aufwand für eine Prüfung, findest du nicht? So viele Formen von Leben hat er erschaffen, vom Skarabäus bis zum Menschen, vom Schmetterling bis zum Elefanten, von der Seeanemone bis zur Zeder. Wozu? Ein jedes, eine jede und ein jeder soll leben nach den Gesetzen seiner Art! Finden wir Gott in dem, was er schuf!« Sagte es und küsste sie lang und innig.
So flossen die Tage und Nächte dahin wie der mächtige Nil, auf dem sie nach Norden Richtung Kairo fuhren, angefüllt mit Segeln, mit Gesprächen, mit Dichten und Lieben, zeitlos, bis sich eines Mittags der Fluss in ein Delta verzweigte. Die Welt mit ihren Abläufen, Zwängen und Aufgaben hatte sie wieder.
Im Abendhauch erblickten sie die Silhouetten der Stadt des Kalifen, al- Q a - hira, die Eroberin, Kairo, die Stadt, nach der sich ihr Herz so viele Tage gesehnt hatte. Nun aber, da die Minarette, die Kuppeln der Moscheen und die Paläste eitel vor Marias Augen posierten, wurde ihr weh ums Herz, denn ihr Gefühl verriet ihr, dass die Zeit der Liebe um sein würde. Das, was sie erlebt hatte, war nicht vorgesehen und deshalb ein Geschenk.
»Sag nichts«, flüsterte sie und legte ihren Finger auf seine Lippen, als sie in seinen dunklen Augen die gleichen Gedanken, die sie selbst bewegten, erkannte. »Sag nichts.«
Am Hafen gegenüber der großen Flussinsel el-Gesira gingen sie an Land und ließen das Boot, das ihre Liebe trug, zurück, ohne sich noch einmal nach dem schäbigen Gefährt umzudrehen, das die Reise wider Erwarten durchgehalten hatte. Sie suchten eine Herberge, die sie im Schatten der Amr-Ibn-el-As-Moschee, eines der größ ten Gotteshäuser der Stadt, alsbald auch fanden. Schweren Herzens entschlossen sie sich dazu, getrennte Zimmer zu
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