Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
aufsaugte. Die Wüste aber gab keinen Blick und kein Leben zurück.
Kapitel 28
A ls die Nacht den Abend endgültig eingeschwärzt und flackernde Lichter an den Himmel gesetzt hatte, holte Hafis das Segel ein und warf den Anker aus. Dabei sang er ein persisches Lied, das Maria zu Herzen ging und das von der Liebe einer Nachtigall zu einer Rose handelte. Im Lied bewunderte die Nachtigall die Rose für ihr Erblühen, trauerte aber zugleich darüber, dass sie bald schon verwelken und vergehen würde. Die Blume erwies sich als taub für die Klage des Vogels. In ihrer Blüte stehend, dachte sie weder an gestern noch an morgen und wiegte sich nur eitel in ihrer Schönheit im Wind. Sie beachtete die Nachtigall nicht, die gezwungen war, von ihrer Schönheit zu künden.
In alle Ewigkeit wird jener
Der Liebe Wesen nicht erkennen,
der nicht den Staub mit seiner Wange
vor einer Schenkentüre fegte!«, beendete Hafis das Lied, nachdem er das Segel gerefft hatte.
Maria breitete die Kamelfelldecke aus. Er wollte sich am Bug zusammenkauern, doch sie hielt eine Ecke der Decke hoch.
»Komm, es wird kalt auf dem Fluss über Nacht.« Dann lächelte sie spöttisch. »Wie kann der sich rühmen, der Versuchung zu widerstehen, wenn er nie der Versuchung widerstehen musste?«
Hafis kroch unter die Decke. Steif wie ein Stück Holz lag er auf dem Rücken. Das sanfte Schaukeln des Bootes, die Schreie der Zikaden, die vom Ufergestrüpp herüberdrangen, wiegten sie in den Schlaf.
Als sie früh am Morgen erwachte, fand sie sich in seinem rechten Arm, den Kopf auf seine Brust gebettet, wieder. Sanft befreite sie sich aus der Umarmung, stand, vorsichtig jedes Geräusch vermeidend, auf und schaute auf den breit daliegenden Nil. Dunst umgab sie, als atmete der Fluss wie ein Lebewesen. Vielleicht befand sie sich wirklich auf dem Leib eines Riesen, dachte sie. Dann hörte sie laute Geräusche, die wie eine Mischung aus Grunzen und Trompeten klangen. Riesige, ungelenk wirkende Tiere stiegen im Licht der aufgehenden Sonne vom Ufer ins Wasser. Die Himmelskönigin berührte den Horizont mit ihren Rosenfingern.
»Flusspferde«, sagte Hafis, der sich ebenfalls erhob.
»Sind sie gefährlich?«
»Nur wenn sie Junge haben und man ihnen zu nahe kommt.«
»Haben sie Junge?«
»Lass uns lossegeln!«
Während Hafis den Anker lichtete, bereitete sie aus Honig, Ziegenkäse, Datteln und Fladenbrot ein kleines Frühstück. Als sie mit ihren Händen Wasser zum Trinken schöpfte, schaute sie in ein großes, geöffnetes Maul mit mächtigen Zähnen, die wie die Zinnen eines Walls einen rosafarbenen Platz umgaben. Doch das Boot glitt schnell weiter.
Sie saßen nebeneinander im Heck, das Segel blähte sich im Wind, und Hafis hielt die Ruderpinne in der Hand. Gnadenlos schien die Sonne auf sie herab. Während ihre Augen in die Landschaft tauchten und Bilder tranken, Farben und Licht und Formen, das schwere Gold der Sonne, die unter einem blauen Himmel auf den Wüstenbergen hockte, erzählte ihr Hafis widerstrebend und nur auf ihr beharrliches Nachfragen hin von seiner Kindheit und Jugend. Von seinem Vater, einem armen Schuster, und seinen vielen Geschwistern.
Verse und Geschichten hatten ihn von klein auf begeistert, ermöglichten sie ihm doch, seiner tristen Welt zu entfliehen. Aber mehr noch zog ihn von klein auf das Wunder der Wunder in seinen Bann, das er begann, immer besser kennenzulernen. In einem kleinen Gegenstand, den die Menschen Buch nannten, konnte man die gesamte Welt mit sich tragen. Von kundigen Händen in kleine magische Zeichen verwandelt, fand alles in ihnen Platz. Sogar Allah. Und Hafis malte die Basmala, jenes Schriftzeichen in die Luft, das jede Sure des Korans, mit Ausnahme der neunten Sure, eröffnete und lautete: Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen . Die Klänge der Worte der Suren, die er sich eingeprägt hatte, verglich er eifrig mit ihrer Schriftform. So lernte Hafis anhand des Korans lesen.
Eines Tages geriet er aus Zufall in der Nähe des elterlichen Hauses in eine Diskussion mit einem Sufi, der den aufgeweckten Jungen als Schüler annahm. An diesem Tag verließ er das Elternhaus und ging von da an den Weg der Mystiker, der Männer des Weges, wie man die Sufis auch nannte.
»Und was hat dich nach Damaskus getrieben?«
»Die Liebe.«
»Die Liebe?«
»Zu Allah. Ich folgte meinem Meister. Als er starb, fand ich in Damaskus einen neuen Meister, der mich in der Medizin unterwies und mir das Geheimnis von den Weisen
Weitere Kostenlose Bücher