Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
nehmen, auch wenn sie vor Sehnsucht und Lust schier vergingen. Es war jedoch zu gefährlich, dem Verlangen nachzugeben, denn entweder würde dadurch ihr Geheimnis, nämlich, dass der kleine Sufi in Wahrheit eine Frau war, gelüftet, oder man hielte sie für homosexuell, was alles andere als harmlos war. Ihr kleines Zimmer mit einem Fenster zur Moschee kam ihr wie ein Kerker vor, in dem sie ihre Gefühle einschloss.
Vor dem Schlafengehen betete Maria das Kaddisch, das jüdische Gebet des Gedenkens. Und rief sich zur Ord nung, schließlich hatte sie eine Aufgabe zu erfüllen. Und plötzlich fragte sie sich, ob sie ihren Bruder erkennen würde, wenn er auf der Straße zufällig an ihr vorbeilief. Wie viele Jahre hatte sie ihn schon nicht mehr gesehen? In dieser Nacht träumte sie das erste Mal nicht vom Augenblick des Wiedersehens mit Christian, sondern von Hafis, und fühlte im Traum seine weichen Lippen auf ihrem Leib.
Nach dem Frühstück durchstreiften sie die Stadt, von deren wenigen breiten Straßen unzählige verwinkelte Gassen abzweigten, die sich träge um quaderförmige Häuser schlängelten. Plätze hatten sich nur dort gebildet, wo Moscheen oder Paläste Raum geschaffen hatten. Zuweilen führten Treppen in die erste Etage, wo sich der Haupteingang befand.
Hafis suchte mit ihr ein Sufikonvent nach dem anderen auf, um diskret Erkundigungen über die Weisen von Damcar einzuholen. Das gestaltete sich höchst zeitraubend, denn er konnte natürlich nicht mit der Tür ins Haus fallen, sondern musste sich mit den Meistern und Lehrern zunächst an einen Tisch setzen, Tee trinken und über mäandernde Gespräche herausfinden, welch Geistes Kind sein Gegenüber und wie vertrauenswürdig er war. Maria starb dabei vor Ungeduld tausend Tode, wäh rend sie den Gesprächen, die von Hölzchen auf Stöckchen kamen, mühsam folgte. Immerhin verbesserte sie dabei ihr Arabisch, denn die Wortgewalt der Meister, die Doppeldeutigkeit der von ihnen verwandten Ausdrücke und die Geheimsprache, derer sie sich bedienten, forderten ihre ganze Aufmerksamkeit. Auf diese Weise lernte sie zwar das Denken der Sufis kennen, kam ihrem Bruder aber keinen Schritt näher. Sie wurde unruhig. Alles Reden und Teetrinken endete stets nur in Gedankenlabyrinthen, denn keiner ihrer Gesprächspartner, ganz gleich welchem Sufiorden er angehörte, erweckte auch nur im Entferntesten den Anschein, dass er etwas über die Weisen von Damcar wusste. Manche argwöhnten in ihnen sogar eine List des Teufels, andere ein Kindermärchen.
Eines Morgens weckte Hafis sie mit strahlendem Gesicht. Er hatte von einem Shaykh gehört, der bei einem armen Schuster in der Vorstadt wohnen und in Verbindung zu den Weisen stehen sollte. Endlich hatten sie eine Spur. Ohne gefrühstückt zu haben, brachen sie sofort auf. Der Weg nahm eine Stunde in Anspruch und führte durch ein koptisches Viertel. In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen, erinnerte sich Maria an einen Ausspruch Jesus’ und stimmte ihm von ganzem Herzen zu.
Der Schuster saß vor seiner Hütte. Er bestritt beharr lich, dass besagter Shaykh bei ihm wohne. Hafis führte all seine Beredtsamkeit ins Feld, doch der Mann arbeitete mit verschlossener Miene weiter an einem Schuh. Als Hafis sich abwandte, schossen Maria Tränen in die Augen. Sie hatte ihm verschwiegen, wie viel Hoffnung sie sich auf dem Weg hierher gemacht hatte, dass dieser Schuster ihre letzte Zuversicht gewesen war. All die langen, nutzlosen Gespräche um des Kaisers Bart hatten ihren Glauben, ihren Bruder jemals zu finden, aufgerieben. Ihr Leben schien sich allmählich im süßlichen Geruch der Wasserpfeifen aufzulösen, der sich aufs Gehirn legte und Bilder von verwelkenden Klatschmohnfeldern heraufbeschwor.
»Gott, Gerechter und Allmächtiger, der Schwertträger ist ja eine Frau!«, rief der Schuster angesichts ihrer Tränen mit großen Augen aus.
Plötzlich bewegte sich der Flickenvorhang vor dem Eingang zur Hütte des Schusters, und ein ziegenbärtiger, alter Mann trat heraus. Sie spürte, dass Hafis erschrak, als er den Mann sah, dessen schmutzigen Kaftan das Emblem einer schwarzen Schlange zierte.
»Der Meister«, flüsterte er ergriffen.
»Trinken wir Tee«, sagte der Mann ausdruckslos mit dünner Stimme.
»Danke für die Einladung, Shaykh«, verneigt sich Hafis.
»Nenn mich nicht Shaykh, sondern Pir oder Fakir, oder wenn du Mitleid mit mir empfinden kannst, sage Nichts zu mir.«
Sie folgten ihm in den hinteren Raum der Hütte, der
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