Das Geheimnis der Rosenkreuzerin
auch durch eine Tür miteinander verbunden.
Manchmal, wenn sie sich erschöpft im Arm hielten, verspürte sie den Wunsch, für immer hierzubleiben, niemals aufbrechen, sich niemals trennen zu müssen, denn sie hatte den Eindruck, das auch Mansur, wie der Alte vom Berge es mit seinen Assassinen tat, sie in ein Paradies versetzte, das sie nicht mehr missen wollten. Wenn er es absichtlich tat, blieb ihnen der Zweck allerdings verborgen.
Doch dann erklärte ihnen Mansur eines Abends, dass sie am nächsten Morgen mit einer Handelskarawane, getarnt als seine Diener, nach Fès reisen würden, wo sie nach einem Metzger namens Yussuf fragen sollten. Die Zeit des Lernens und des Liebens war vorbei. Wieder würden sie sich in Gefahr bringen, wieder das Verlangen bezwingen müssen, um sich nicht zu verraten.
In dieser Nacht taten sie kein Auge zu. Sie liebten sich stürmisch und hart, weil sich in ihr Liebesspiel die Verzweiflung mischte und sie zu vergessen suchten, dass sie einander vielleicht das letzte Mal umarmten. Es war grausam, ins Ungewisse zu ziehen, wenn man zum ersten Mal das Gefühl hatte, mehr verlieren als gewinnen zu können. Sie wollte ihm die Hälfte jenes Rings umhängen, den sie damals mit ihrem Bruder geteilt hatte, doch er schob ihre Hand zurück.
»Du wirst ihn noch brauchen. Und du hast mir etwas viel Wertvolleres geschenkt, deine Liebe. Wie kann ich die jemals verlieren?«
Niemals hätte sie auf dem Nil geglaubt, dass sie von dem dicken Kaufmann eines Tages als Freunde scheiden würden. Doch so war es gekommen.
Die Karawane zog durch die Wüste, den Maghreb. Es zeigten sich zwar immer wieder neugierige Berber, die die Erfolgsaussichten für einen Überfall auszukundschaften pflegten. Doch angesichts der Größe der Karawane und ihrer Eskorte erledigte sich jeder auch noch so verwegene Gedanke, sie ausrauben zu können, von selbst.
Wenn sie in einer Karawanserei oder am Rande einer Oase ihr Lager aufschlugen, nahm Maria ihr Schwert, ging ein paar Schritte in die Wüste und erprobte sich bis zur Erschöpfung im Schwertkampf. Um Schnelligkeit und die Übereinstimmung von Atem und Bewegung zu üben, benötigte sie keinen Partner. Jede ihrer Bewegungen wurde zum Teil eines Tanzes, dessen Rhythmus vom Ein- und Ausatmen bestimmt wurde. Manchmal schloss sie die Augen und brachte ihre Atmung zum Stillstand, um jede Bewegung in ihrer Umgebung zu fühlen, noch be vor sie sie hörte. Jede Bewegung des Windes, eines Blat tes am Baum, eines Kerbtieres im Sand löste einen Hauch aus, den sie spüren konnte. Und so, wie sich ihr die Erschütterung von Wassertropfen mitteilte, vermochte sie auch die Schwingung der Luftmoleküle wahrzunehmen. Das hatte sie der Schwertmeister zuerst gelehrt, den Hieb des Feindes bereits zu erkennen, noch bevor er ihn ausführte, denn jedem Schwertstreich geht eine, wenn auch noch so kurze, Vorbereitung voraus. Darin verriet sich der Gegner, sie galt es rechtzeitig auszumachen und dann schnell zu handeln. Diese Fähigkeit, die sie durch hartes Üben erworben hatte, musste immer weiter vervollkommnet werden. So wie sie sich erlernen ließ, so konnte man sie auch wieder verlieren. Die Sinne neigen von Natur aus nicht dazu, feiner, sondern gröber zu werden. Und wie ein unbearbeiteter Acker bald von Un kraut überwuchert ist, so verhält es sich auch mit den Sinnen.
Aus diesem Grund wurden ihr die Übungen zu einer zweiten Natur, die sie bald schon nicht mehr missen wollte, sondern die sie ein wenig blasphemisch ihren Gottesdienst nannte. Vergnügt stellte sie fest, dass Azrael mit jeder absolvierten Übung leichter wurde. Er war zu einem Teil ihres Körpers geworden. Hafis beobachtete sie aus der Entfernung. Sie vergaß schnell, dass er jeder ihrer Bewegungen folgte, ganz versunken in ihrem Tun. Aber es gefiel ihr, dass er zusah. Wenn sie ihre Schwertmeditationen beendete, hatte sie das Gefühl, dass er ihr ein Gewand aus Blicken gewebter kühlender Seide über die schwitzenden Schultern legte. Dann ging sie zu ihm und setzte sich im Schneidersitz neben ihn. Blicklos schauten sie in die Ferne und legten die nach oben geöffneten Hände vor ihren Körpern übereinander. Und dann gelang ihnen eines Abends etwas, das sie zutiefst erstaunte und beglückte. Sie verließen ihre Körper, liefen tief in die Wüste und liebten sich, wild und lange und dann wieder zärtlich. Jeder Außenstehende, der sie gesehen hätte, hätte gemeint, dass da zwei Kaufleute nebeneinandersaßen und beteten.
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