Das Geheimnis der Rosenlinie - Esch, W: Geheimnis der Rosenlinie
und schnäuzte sich vernehmlich die Nase. Schließlich nahm sie den Brief wiederum in die Hände, stützte sich mit den Ellebogen auf der Tischplatte ab und las erneut.
Maurus hatte ihr nicht nur einen Beutel mit Goldgulden hinterlassen, sondern noch etwas viel wertvolleres. Mit dem Ärmel ihres Kleides wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, die nun unaufhaltsam herabkullerten.
»Er liebt mich«, stammelte sie leise und hielt sich den Mund zu, um nicht gleich laut loszuheulen. Mit Tränen erfüllten Augen las sie den Brief ein drittes Mal.
Werte Enja DeVeer,
als ich Euch das erste Mal sah, hatte ich sogleich Worte der Poesie im Kopf, wusste nicht warum, wusste nicht was geschehen war, als ich Eure Augen schaute. Ich bin wahrhaft kein Dichter, dennoch sollt Ihr wissen, was ich in diesem winzigen Augenblick dachte, als Ihr mir die Tür öffnetet:
Ich kenn zwar deinen Namen nicht
Doch merkte ich mir dein Gesicht
Aus dem auch deine Seele spricht
Worte sind wie Gedanken –
Sie ebnen dir einen Weg in eine Welt
Hinter dem Horizont, jenseits des Verstandes
Wo auch kein Hund mehr bellt
Und wer die Fähigkeit besitzt,
diese Gedanken aufzuschreiben
der sollte es auch unbedingt tun
denn er wird bleiben,
um anderen zu helfen,
ihren Weg zu finden.
Dann wird tiefe Freude er empfinden.
Wahrhaftig keine große Dichtkunst, dem ungeachtet ist es ehrlich. Ihr sollt wissen, dass ich Euch sehr schätze und mich tief in meinem Herzen nach Eurer Nähe sehne. Aber ich habe Gott die Treue versprochen und muss erst noch meinen Auftrag erfüllen, der mich in Eure Nähe geführt hat. Und dazu einem guten Freund zur Hilfe eilen, der in großer Gefahr schwebt. Das heißt, dass auch ich mich in Gefahr begeben muss. Ich weiß nicht, wie lange ich weg sein werde und ob ich je zurückkomme, aber das Geld dürfte Euch beide einige Zeit genügen und Marinus’ Ausbildung sichern.
In tiefer Verehrung und Ergebenheit
Maurus Schouwenaars van Leuven
»Ich liebe dich auch, Maurus Schouwenaars van Leuven«, flüsterte Enja sehnsuchtsvoll. »Gott behüte dich und komme bald zurück!«
2. Gent – Dem Tode entronnen
Die Fahrt in das nordwestlich von Brüssel gelegene Gent dauerte drei Tage, da Maurus mit seinem Gespann erneut Wind und Wetter trotzen musste. Die Wege waren aufgeweicht und an manchen Stellen kaum passierbar. Immer wieder musste er vom Wagen steigen und das Maultier am Halfter führen. Nachts wagte er kaum in einem Gasthof zu übernachten oder ein Feuer zu entfachen, denn er fürchtete verfolgt zu werden. Der Mörder der Brüder von Villers war noch nicht gefasst.
Doch er hatte sein Ziel am Zusammenfluss der Flüsse Schelde und Leie unbehelligt erreicht. Jetzt stand er vor dem imposanten Turm der Sint Baafs Kathedraal wie die Sankt Bavo Kathedrale in flämischem Dialekt genannt wurde. Gent war ein eigenständiges Bistum und der derzeitige Bischof war Antoon Triest, das wusste Maurus. Er wollte die Hilfe der Diözese nicht in Anspruch nehmen, zu groß war seine Furcht, entdeckt zu werden.
Ehrfurchtsvoll stand er da und bemerkte den Betrieb auf den Straßen kaum, die umherziehenden Hausierer, die Barbiere, die Rasuren und Haare schneiden sowie die Behandlung schlechter Zähne anboten, die Knechte und Mägde, die zum Buttermarkt strömten.
Schließlich gab er sich einen Ruck und betrat die Kirche. Langsam und andächtig durchschritt er das lange gotische Mittelschiff der Kathedrale mit den hohen, spitz zulaufenden Kreuzgratgewölben. Dann endlich stand er vor dem Altar. Maurus faltete die Hände zum Gebet und fixierte den Flügelaltar, der fast zweihundert Jahre zuvor von den Brüdern Hubert und Jan van Eyck geschaffen wurde. Doch beim Anblick des Altars war er enttäuscht, denn der Flügelaltar zeigte sich geschlossen. In der Kirche herrschte noch Betrieb und so setzte sich Maurus in eine Bank und wartete, hoffte, irgendwann einmal allein zu sein und den Altar näher untersuchen zu können.
Als er so da saß und den Altar betrachtete fiel ihm auf, dass dieser in drei Zonen aufgeteilt war. Die obere Zone zeichnete sich durch Rundbogenabschlüsse aus. In den Bogenfeldern links und rechts waren die Propheten Micha und Sacharja dargestellt. Dazwischen waren die Eriträische und die Cumerische Sibylle abgebildet. Die mittlere Zone zeigte eine Verkündungsszene. Links war der Verkündungsengel und rechts die Gottesmutter Maria abgebildet.
Maurus’ Aufmerksamkeit wurde durch einen jungen Kaplan abgelenkt, der jetzt den
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