Das Geheimnis der Rosenlinie - Esch, W: Geheimnis der Rosenlinie
Betrachters.
Das alles beherrschende Thema war jedoch das Lamm Gottes im Zentrum des Bildes. Bei näherer Betrachtung fiel Maurus auf, dass eine Gruppe kirchlicher Würdenträger sich zum Teil vom Lamm Gottes abwendeten. Welch ein frevlerischer Akt, da doch die Anbetung alles überstrahlen sollte. Was wollten die Künstler damit sagen? Dass sich die Kirche von Gott abwendete? Maurus schauderte bei dem Gedanken, wenngleich er in den letzten Tagen ähnliche Gedanken hegte. Eine Gruppe von Tempelrittern erregte nun seine Aufmerksamkeit. Ein Orden, vom Papst 1307 aufgehoben. Was hatte das zu bedeuten? Wollten die Gebrüder van Eyck die Kirche verspotten? Wollten sie sich als Anwälte der Geächteten hervortun? Oder zielten die Maler damit in eine ganz andere Richtung? Die Tempelritter als Bewahrer des Heiligen Grals?
Sein Blick fiel auf eine Frauengruppe mit Palmwedeln. Links trug eine der Frauen ein Lamm in ihren Rock gehüllt vor sich her. In der Mitte war eine offenbar Schwangere zu sehen, die einen Kelch in der Hand hielt, gefüllt mit roten Früchten oder sollten es Rosenblätter sein? Die Rosenlinie?
Maurus wurde ganz schlecht. Mein Gott, was geht hier vor, ging es ihm durch den Kopf. Gedanken kreisten, Bilder erschienen. Er drehte sich weg. Der Jesuit hatte genug gesehen. Er wand sich noch einmal um, um die Flügel des Altars zu schließen. Dann stieg er die Stufen herab. Auf der letzten warf er einen Blick zurück. Jetzt sah er es, überdeutlich! Maurus erschrak, stolperte und verlor beinahe das Gleichgewicht. Die Darstellung des Johannes des Evangelisten! Das Gesicht glich dem Antlitz einer Frau und die Hände, die den Kelch mit Giftschlangen halten, wirkten feingliedrig und feminin. Ein sichtbarer Fuß war durch einen weiblichen Schuh bekleidet.
»Großer Gott, das gibt’s doch gar nicht!«, stöhnte er zurücktaumelnd. Dann ließ er sich auf die erste Bank fallen und starrte regungslos den Altar an. Maurus wusste nicht, wie lange er dort regungslos gesessen, den Altar angestarrt hatte, welche Gedanken in seinem Kopf kreisten, als ihn plötzlich eine Stimme in die Wirklichkeit zurückrief.
»Ein erstaunliches Werk, nicht wahr, Bruder?«
Maurus schreckte herum und sah in das kantige Gesicht eines breitschultrigen Mannes mit stahlblauen Augen.
»Bruder Balduin, was machst du denn hier?«, entfuhr es ihm überrascht.
»Nun, dasselbe könnte ich dich fragen, Maurus«, entgegnete Balduin. Maurus lächelte verlegen. Er kannte Balduin noch aus seiner Studienzeit in Leuven. Balduin war genau wie er Jesuit und lehrte inzwischen Theologie, das hatte Maurus zumindest vor wenigen Jahren bei seinem letzten Besuch in Leuven erfahren.
»Ich bin hier im Auftrag meines Erzbischofs, Ferdinand von Cölln«, antwortete Maurus, aber seine Verlegenheit war ihm anzumerken.
»Sag’, welche Geschäfte hatte der Cöllner Erzbischof in Gent zu regeln?« Neugierig lächelnd blickte Balduin seinen Ordensbruder an.
»Darüber darf ich nicht sprechen«, log Maurus und verfluchte sich insgeheim ob der neuerlichen Lüge, erwiderte Balduins Lächeln verzagt.
»Das ist schade!«, stellte Balduin fest. »Aber warum belügst du mich?«
»Ich lüge? Warum sollte ich?« Maurus fühlte sich ertappt, wie ein Kaninchen in der Falle.
»Weil ich deinen Auftrag kenne, mein Bruder!« Perplex blickte Maurus auf. Balduins Gesicht zeigte keine Regung, war maskenhaft. »Ich sehe, du bist erstaunt, Maurus. Hast du denn geglaubt, deine Schritte blieben unbeobachtet? Seit du in den Dienst deines Churfürsten getreten bist, hat man dich beobachtet. Die Societas Jesu kann es sich nicht leisten, Abtrünnige in ihren Reihen zu haben. Der Herr mag ein Gegenreformator sein, dennoch hat er dir einen gefährlichen Auftrag erteilt, einen Auftrag, der dich am Ende an der Wahrheit zweifeln lässt!«
»Ich verstehe nicht«, war Maurus’ verdutzte Antwort. »Von welcher Wahrheit sprichst du, Bruder?«
»Von der einzigen Wahrheit, der einzigen wahren Lehre unseres Herrn Jesus Christus.«
»Aber die habe ich doch nie angezweifelt«, empörte sich Maurus. »Was glaubst du, warum ich Jesuit geworden bin?«
Balduin lachte hässlich auf.
»Oh du Narr! Satan hat dir seinen Giftpfeil doch bereits ins Herz gebohrt. Du zweifelst bereits. Warum bist du denn überhaupt hier und nicht auf dem Weg nach Bonn? Bisher konnte ich dich beschützen, doch jetzt stehst du mit deinen Zweifeln am Scheideweg. Diese Hure hat noch niemanden Glück gebracht. Sie ist eine verfluchte
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