Das Geheimnis der Rosenlinie - Esch, W: Geheimnis der Rosenlinie
fraternitatis offen den Papst angegriffen. Sie glauben, die göttlichen Regeln in der Tabula Smaragdina erkannt zu haben. Hast du davon schon einmal gehört, Maurus?«
Maurus blickte ob der harschen Worte seines Freundes auf. Oh ja, dachte er, mehr als das. Denn er erinnerte sich sehr gut daran, als er bei den Aufzeichnungen des Caesarius von Heisterbach auch eine Abschrift der Tabula Smaragdina fand. Doch irgendetwas sagte ihm, es sei besser, darüber zu schweigen. So sah Maurus Jean Bolland nur fragend an.
»Nun denn, Maurus, ich fand in der Universität von Leuven einst eine Abhandlung darüber. Du solltest dir diese blasphemische Schrift ruhig einmal anschauen. Weißt du, Maurus, die Rosenkreutzer beschimpfen uns, wir würden mit unseren Reden die Menschen betrügen und die vielen Einfältigen unter ihnen um ihr Geld bringen, nur um unseren eigenen Vorteil zu befriedigen. Einen Satz aus ihren Ketzerschriften habe ich sogar auswendig gelernt: Meidet und fliehet solche Bücher, die ihr gewitzt seid, und wendet euch zu uns, die wir nicht euer Geld suchen, sondern unsere großen Schätze euch gutwillig anbieten! Welch eine Anmaßung, eine Anmaßung, die ganz Europa erschütterte, ein gewaltiges Echo erzeugte und möglicherweise auch zu dem Krieg zwischen Katholiken und Protestanten beitrug. Denn letztendlich sind die Schriften der Rosenkreutzer an vielen Stellen mit protestantischem Gedankengut durchwebt. Manche dieser verrückten Sektierer behaupten sogar, im Genter Altar sei das Geheimnis jenes ominösen Evangeliums nach Maria Magdalena festgehalten worden.«
Bei der Erwähnung des Genter Altares horchte Maurus auf und blickte Jean Bolland fragend an.
»Sag mal, Jean, was glaubst du, was geschehen würde, wenn – und ich sage das nur rein hypothetisch – wenn es dieses Evangelium doch geben würde?«
Jean Bolland beugte sich jetzt vor und blickte Maurus tief in die Augen.
»Wenn es diese Schrift wirklich gäbe, alter Freund, dann würde sie das Ende aller Tage bedeuten, die Apokalypse. Die Kirche und mit ihr die gesamte Christenheit – und damit meine ich Katholiken wie Protestanten – würden untergehen und vom Erdboden getilgt werden. Gott würde sich abwenden und die Welt wäre des Teufels. Darum darf es diese Schrift nicht geben, denn sie würde alles verbrennen. Es ist unsere heilige Aufgabe, die Menschen vor einem solchen fatalen Irrtum zu beschützen! Und es gibt nur eine Möglichkeit, die Welt vor dem Chaos zu bewahren: Jeder, der an die Existenz dieses Evangeliums des Teufels glaubt, muss brennen«, warnte Jean eindringlich. »Bring deinem Churfürsten diese Nachricht und er wird wissen, was zu tun ist. Ferdinand von Wittelsbach ist ja schließlich hinreichend als Gegner der Reformation und der Hexen und Zauberer bekannt«, fügte er hinzu.
Maurus war es plötzlich kalt, die Luft im Raum eisig und schwer. Sein Freund hatte sich verändert. Aus dem wissbegierigen Studenten von einst war ein erzkatholischer Priester geworden und ein eherner Verfechter der Gegenreformation, ein wahrer Jesuit.
»Ich werde deinen Ratschlag beherzigen, Bruder!« Mit diesen Worten verabschiedete sich Maurus und verließ das Jesuitencolleg. Er machte sich auf den Weg in die Vorstadt, wo Enja und Marinus auf ihn warteten. Auf dem Weg dorthin dachte er noch mal über das Gespräch mit seinem Freund Jean Bolland nach. Als er einer Gruppe Franziskanermönchen begegnete, blieb er unvermittelt stehen. Plötzlich war ihm klar, was geschehen würde, wenn er Churfürst Ferdinand von Wittelsbach von seinen Abenteuern berichten würde. Der Cöllner Erzbischof würde sich bestärkt fühlen und eine wahre Hexenjagd eröffnen nach allen Protestanten und scheinbaren Esoterikern, denen er habhaft werden konnte. Und wenn es jenes Evangelium nach Maria Magdalena tatsächlich gäbe, dann würde auch Churfürst Ferdinand danach suchen, um es in seinen Besitz zu bringen. Und man stelle sich einmal vor, welche Macht dieses Buch, dieses Evangelium, ausüben könnte. Der Besitzer dieser Schrift könnte die Welt in die Knie zwingen.
Das war das Teuflische an dieser Schrift! Man würde den wahren Glauben, die wahre Lehre dieses Evangeliums, ins Gegenteil verkehren.
Ihm wurde klar, in welcher Gefahr sie alle schwebten. Wenn dieses Evangelium wirklich existierte, dann würden alle danach jagen, es suchen, um es in ihren Besitz zu bekommen: Fürsten, Kirchenorden und andere Würdenträger der Geistlichkeit, ja auch die Gesellschaft Jesu. Sie
Weitere Kostenlose Bücher