Das Geheimnis der Rosenlinie - Esch, W: Geheimnis der Rosenlinie
entgegen. Maurus freute sich auf die Fahrt nach Brüssel, auf den spanischen Hof, auf die prunkvolle Stadt. Die Aussicht auf ein wenig Kultur und ein ordentliches, warmes und weiches Bett ließen ihn für einen kurzen Augenblick das Grauen der letzten zwei Tage vergessen. Vielleicht würde er sogar Jean Bolland wieder treffen, der am Jesuitencollegium zu Brüssel lehrte. Sie hatten gemeinsam in Leuven studiert. Jean Bolland war mit Leib und Seele Historiker, Hagiograph und leidenschaftlicher Sammler von Legenden über Märtyrer und Heilige der katholischen und auch der griechischen Kirche. Jean nannte diese Sammlung Acta Sanctorum – Taten der Heiligen.
Während er so über die gemeinsamen Jahre mit Jean Bolland nachdachte, kam ihm eine Idee. Vielleicht konnte er mit Jeans Hilfe Licht in das Dunkel um die Rosenkranzbruderschaft bringen. Mit Sicherheit konnte er auch etwas zur Klärung des Vermächtnisses der Sophie von Limburg beitragen. Vielleicht sogar etwas über das Geheimnis, das dieses seltsame Vermächtnis umgab, herausfinden. Maurus’ Niedergeschlagenheit wich einer plötzlichen Freude, der Freude auf das Wiedersehen mit einem guten Freund und der Aussicht, seine Mission doch noch erfolgreich zu Ende bringen zu können.
Marinus erzählte während der Fahrt gen Brüssel eine Menge von seinem Leben mit Enja, der Prostituierten. Als Dreijährigen nahm sie den Jungen zu sich, nachdem sie ihn zuvor regelmäßig im Findelhaus in Brüssel besucht hatte. Sie erzählte ihm von seiner Mutter, einer Freundin von ihr, die bei Marinus’ Geburt gestorben sei. Ihr hätte sie das Versprechen gegeben, sich um den Knaben zu kümmern. Enja verkehrte oft mit reicheren Herren. Darum war ihr Auskommen oft besser als das der meisten anderen Freudenmädchen, die sich oft aus der Not heraus geboren jedem Freier hingeben mussten, um genügend Geld zusammenzubekommen, damit sie den nächsten Tag schadlos überstehen konnten.
Enja wusste viel über Kräuter, war in der Lage, Salben und Tinkturen zu mischen, die den Kranken halfen. Marinus sah in ihr eine sehr kluge und liebevolle Frau. Der Junge vertraute Maurus an, dass er sich manches Mal gewünscht hatte, dass Enja seine wirkliche Mutter sei. Nie hatte sie ihn geschlagen, auch wenn er noch solchen Unsinn angestellt hatte. Sie war sehr gütig zu Marinus. Nur einmal hatte er Enja wirklich wütend erlebt. Ein Freier hatte ihr übel mitgespielt, sie bestohlen und anschließend auch noch bedroht. Daraufhin haute sie ihm mit einem Besen derart die Hucke voll und drohte ihm, seiner Frau von seinem Stelldichein mit ihr zu erzählen, dass er am Ende beinahe freiwillig das Doppelte bezahlt hatte als Enja verlangte.
»Woher weißt du das, Marinus? Warst du denn bei ihren Geschäften zugegen?« Maurus konnte kaum glauben, dass der Junge Zeuge der fleischlichen Verfehlungen seiner Ziehmutter gewesen sein sollte.
»Nein, Frater Maurus. Sie ist ihren Geschäften nie Zuhause nachgekommen. Sie tat es in einem Wagen, der in der Nähe des Stadttores stand. Dort befriedigte sie das Mannsvolk, indem sie es zwischen ihre Schenkel ließ oder ihnen ihren Schwanz streichelte.«
»Marinus!«, rief Maurus, entsetzt über die Ausdrucksweise des Knaben. Dieser warf dem Jesuiten einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Was ist, Frater, wollt Ihr mir verbieten so zu sprechen? Ich bin doch kein kleiner Junge mehr. Und außerdem habe ich es doch am eigenen Leib erlebt. Wisst Ihr, Frater Amarin hatte eines Tages herausgefunden, dass Enja ihr Geld mit Prostitution verdient. Daraufhin bedrängte er mich umso mehr, beschimpfte mich als Hurensohn und unterstellte mir zu wissen, wie man die fleischliche Begierde zufrieden stellen konnte.«
Maurus schwieg eine Weile verlegen.
»Verzeih mir, Junge. Ich habe das nicht bedacht.«
Marinus schniefte und wischte sich mit dem Ärmel seiner Kutte die Nase
»Ich wünschte, ihr wärt mein Magister gewesen. Ich glaube nicht, dass Ihr Derartiges von mir verlangt hättet. Mit Zehn gab mich Enja in die Obhut der Zisterzienser von Villers. Kaum ein Jahr später ist es das erste Mal geschehen.«
Wieder brach der Junge in Tränen aus und Maurus wusste nicht so recht, wie er den Jungen trösten sollte.
»Jetzt ist es vorbei, Marinus. Es ist vorbei«, flüsterte er leise und strich dem Knaben zögerlich über das Haar.
Noch gut zwei Stunden waren Maurus und Marinus von Brüssel entfernt, als am Horizont graue Wolken auftauchten und den Himmel vollends verdunkelten. Ein furchtbarer
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